Brieftaubengeschichten 2009
Vorwort
Zunächst einmal herzlichen Dank an alle Autorinnen und Autoren, die sich an unserem ersten Brieftaubengeschichten-Wettbewerb beteiligt haben. Zwar hatten wir auf eine rege Teilnahme gehofft, waren vom Zuspruch am Ende allerdings doch überrascht: 63 Einsendungen sind bis zum 30. April 2009 (Datum des Poststempels) bei uns eingegangen: 41 Prosatexte und 22 Gedichte von Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Österreich, Ungarn, Irland, der Schweiz und von der Insel Formentera. Darunter waren ebenso viele "Gelegenheits-Schreiber" wie geschulte Autoren, 61 Erwachsene und zwei Jugendliche unter 18 Jahren. Den Text einer Jugendlichen haben wir (trotz Überlänge) wegen seiner bemerkenswerten Qualität berücksichtigt. Kinder hatten sich am Wettbewerb nicht beteiligt.
Die Entscheidung darüber, welche der 63 Einsendungen hier veröffentlicht werden und welche davon zusätzlich die (für uns) besten Texte (also Brettspiel-Gewinner) sind, ist naturgemäß subjektiv. Andere Juroren hätten vielleicht andere Texte gekürt. Wir haben besonderen Wert gelegt auf ebenso gut geschriebene wie originelle Beiträge. Auch war uns wichtig, dass die Einsendungen tatsächlich in irgendeiner Weise von Brieftauben erzählen. Dazu ein paar Anmerkungen (für die Experten unter unseren Lesern):
Brieftauben fliegen immer nur nach Hause, das heißt, man kann sie nicht an fremde Orte schicken, auch wenn das eine wunderbar romantische Vorstellung ist: Denn woher sollten die Tiere wissen, wohin sie fliegen sollen? Wenn also zwei Menschen per Brieftauben miteinander kommunizieren wollen, muss der eine (für eine befristete Zeit) die Tauben des anderen besitzen und diese bei sich im Schlag einsperren. Sobald er ihnen Freiflug gewährt, fliegen die Tiere automatisch nach Hause – und bringen "ganz nebenbei" eine Nachricht mit.
Brieftauben sind nur selten ganz weiß. Rein weiße Tauben kennen wir allerdings von Hochzeiten, bei denen sie als Glücksbringer für das Brautpaar aufgelassen werden. Dass sehr viele Texte mit weißen Brieftauben eingegangen sind, ist wohl diesem Umstand geschuldet.
Brieftauben können eines nicht: Wenn sie schlafen, ihren Kopf ins Gefieder stecken.
ABER: Da unser Wettbewerb alle Autorinnen und Autoren, nicht nur Brieftaubenzüchter, angesprochen hat, hatten solche "Fehler", wenn sie in gut geschriebenen Texten auftauchten, keinerlei Einfluss auf die Bewertung.
Slata Roschal
Im Flug
Eine Taube
bringt den Wolken
eine Nachricht
aus der Ferne,
leise knirscht
der erste Schnee –
weiße Hoffnung
kalter Erde
fliegt vorüber.
Halte an!,
baten flüsternd
stolze Tannen,
bis sie längst
im Blau verschwand
und die vielen
Sonnenstrahlen
sich zu klaren Pfützen
schmolzen.
Slata Roschal ist 17 Jahre alt und lebt in Schwerin.
Niklaus Schmid
Die Taube bleibt an Bord!
Das Meer wälzte sich wie eine dicke, haarlose Raupe. Kein Windhauch kräuselte die Oberfläche. Wasser und Wolken waren bleifarben und die Luft an Bord unseres kleinen Schiffes so dick, dass ein Streichholz genügt hätte, um eine Explosion auszulösen.
Oder ein scharf gesprochenes Wort.
Vor mehr als vierundzwanzig Stunden hatten wir mit unserem Segelboot den Club Náutico von Sant Antoni im Westen der Baleareninsel Ibiza verlassen. Die rund 60 Seemeilen bis Jávea, dem nächsten Hafen am spanischen Festland, sind nur ein Katzensprung, wenn der Wind einigermaßen günstig steht. Doch gänzlich ohne konnte es scheinbar eine Ewigkeit dauern.
"Ich werde wohl alt und grau sein, bis wir ankommen", bemerkte meine Freundin Mona, nachdem wir uns eine lange Zeit angeschwiegen hatten. Sie wollte, dass ich den Hilfsmotor einsetzte. Doch das ging mir gegen die Seglerehre.
"Unser Boot ist kein motorisierter Haartrockner und auch keine Rennjacht", erklärte ich unnützerweise. "Also, Geduld!"
"Du bist nun mal langsam. In allem!"
Dass Frauen immer vom konkreten Thema abweichen und auf ein völlig anderes anspielen müssen. Ich war wütend. Mona über Bord zu werfen, würde nichts nützen. Die Apfelsinenschale, die ich vor einer Stunde weggeworfen hatte, schwamm immer noch neben uns.
Es geschah in diesem explosionsnahen Moment, dass sich eine Taube aufs Vordeck niederließ. Ich sah darin einen Fingerzeig, meinen Zorn zu dämpfen. Die Taube trippelte umher. Irgendetwas schien mit dem Flügel nicht zu stimmen. Sie gurrte und setzte sich auf Monas Aquarelle, die sie zum Trocknen aufs Deck gelegt hatte.
Dieser Vogel, Symbol des Friedens und der Sanftheit, müsste eigentlich auf jeden Menschen beruhigend wirken. Mona tobte wie ein Taxifahrer im Verkehrsstau, als die Taube einen persönlichen Beitrag für die Kunst auf das Papier fallen ließ.
"Schmeiß das Vieh von Bord!"
Ich ganz Sanftmut: "Die Taube bleibt!"
Mona sagte nichts. Aber ich sah, wie sie im Kochbuch blätterte und anschließend eine Seite studierte, die eine Anleitung für das Braten und Kochen von Tauben enthielt.
"Haben wir nicht noch einen Rest Sherry in der Flasche?", fragte sie betont harmlos.
"Die Taube bleibt an Bord. Lebend!"
"Warum?", fragte sie, streitsüchtig aus Langeweile.
Ich weiß nicht, weshalb ich immer noch glaube, man müsse einer Frau alles erklären. "Es ist eine Brieftaube. Sie hat einen Ring am Fuß und trägt außerdem eine Botschaft."
Mona liest leidenschaftlich gerne Briefe, fremde sogar besonders, auch wenn die in Suaheli oder Urdu geschrieben wären. Ich hatte ein Stück Papier zusammengefaltet, ging auf die Taube zu und tat, als ob ich den vermeintlichen Brief von ihr löste.
"Übrigens, der Empfänger wohnt in Jávea", sagte ich.
Mona klappte das Kochbuch zu. Knisternde Ruhe an Bord.
Es dauerte noch Stunden, bis wir endlich den rotbraunen Felsabbruch des Kaps von Jávea erkennen konnten, und weitere, bis wir anlegten.
Am Kai stand ein Uniformierter der Guardia Civil. Er sprach mit einem Mann, der wie ein Fischer gekleidet war. Aufgekrempelte Hosenbeine, Plastikschuhe, und trotz der Hitze trug er einen Pullover mit Jacke darüber. Ich ging an Land, trat auf die beiden zu und grüßte mit einer Handbewegung. Der Fischer zeigte auf den behelfsmäßigen Käfig, in den ich die Taube gesperrt hatte. Ich radebrechte ein, zwei Sätze auf Spanisch. Er lächelte freundlich und nickte.
"Das ist der Besitzer der Taube", rief ich Mona zu, reichte dem Mann den Kasten, und zusammen gingen wir in Richtung des Ortes.
Nach einer halben Stunde kam ich wieder. Mona versuchte ihre Neugier zu unterdrücken, aber es brodelte deutlich in ihr.
"Man muss eben Geduld haben, mein Engel. Manchmal lohnt es sich." Ich fasste in die Hosentasche und holte ein Bündel Geldscheine heraus.
"Was? Etwa von dem alten, ärmlich gekleideten Mann?", fragte sie gedehnt.
"Ja, genau. Doch nix ärmlich: steinreicher Landbesitzer. Taubennarr. Leicht exzentrisch. Er hatte den ganzen Tag auf die Rückkehr seiner Lieblingstaube gewartet."
"Möchtest du ein Glas Sherry?", fragte Mona kleinlaut.
Der alte, nur an Steinen auf seinem Acker reiche Mann wird es mir verzeihen, dass ich ihn exzentrisch nannte. Immerhin hatte ich ihm die Taube geschenkt – nur dafür, dass er mir zeigte, wo ich mit meiner EC-Karte Geld abholen konnte.
Niklaus Schmid lebt in Duisburg und auf Formentera.
Christian Seiffert
Irmi
Die Benzing(1) aus den 50ern steht im Wohnzimmer. Heinz putzt sie jede Woche. Wie sein Barometer. Das hängt neben dem Küchentisch, an dem er seit vielen Jahren alleine frühstückt. Auch zu Mittag isst. Essen auf Rädern. Nur wenn der Fernseher läuft, merkt er nicht, wie alleine er ist. Der Enkel meldet sich meist am Wochenende. Kurz. Bei dir alles in Ordnung, Opa? Vor ein paar Jahren hatte er sich immer noch nach seinem Rennstall erkundigt. Vor seinen kurzen Spaziergängen setzt Heinz die Uhr in Gang. Und wenn er wiederkommt, steckt er einen Gummiring in eine Konstatierhülse und in die Öffnung, dreht am Schlüssel. Er mag das Geräusch des Schlagwerks. Für einen kurzen Augenblick glaubt er dann auch Flügelschlag zu hören. Gurren. Er sieht sich seine Zeiten an. Auflassplatz Park. Da gibt es Tauben, aber es schüttelt ihn, wenn sie näherkommen. Kein Vergleich. Sein Kabi(2) ist das Taxi von Horst, denn hin und zurück klappt es nicht mehr.
Die Zeit nimmt er mit der Armbanduhr. Die ist von Irmtraud. Zur Silberhochzeit. Drei Kränze hatten die Nachbarn ihnen an die Haustür gehängt: silbern, grün und einer golden. Was ist? Was war? Und: Was wird sein? Aber die goldene hatten sie nicht geschafft. Er merkt sich immer die Fahrzeit. Wieder zurück, wenn er den Streifen aus der Benzing nimmt, zieht er im Kopf die Taxifahrzeit ab. Auflassplatz Café. Ich muss wieder in den Heimatschlag. Bringst du mir mal die Rechnung? Heinz kann sich den Namen der Bedienung nicht merken, obwohl sie die Tochter einer Freundin von Irmtraud ist. Nach dem Café dauert es immer besonders lange, bis er endlich die Hülse in der Benzing versenken kann. Das liegt nicht wirklich an seinem Hüftgelenk. Eher an seinem fehlenden Antrieb, nach Hause zu kommen. Die Witwerschaftsmethode hat bei seinen Tauben immer gut funktioniert, aber auf ihn wartet niemand mehr zu Hause. Beim Einkauf lässt er die Uhr aus. Dann muss er mit Horst auch zurück, weil ihn die Plastiktüten so schnell aus dem Gleichgewicht bringen.
Schlechtwetterfront, sagt er immer zu Horst, den Auflass kann ich nicht verantworten. Horst lacht dann, er ist auch im Verein. Wenn die Uhr voll ist, ist im Sommer ein Monat vergangen, im Winter auch mal zwei: sein Konkurs(3) nach der Hüftoperation. Seit der ist es auch auf dem Dachboden still geworden. Seit sechs Jahren. Sieben? Manchmal möchte er hoch, einfach dort stehen, sein Rennstall, die Augen schließen und den Geruch einsaugen. Aber er kommt die schmale Holzstiege einfach nicht mehr rauf. Also bleibt ihm nur die Benzing. Heute war er nicht los, denn heute Abend ist Jahreshauptversammlung. Er hat sich ausgeruht. Schon fertig angezogen. In einer halben Stunde kommt Horst. Sogar die Manschettenknöpfe hat er an. Von Wilhelm zur Hölzernen: Tauben, in Perlmutt geschnitten. Er streicht mit der Hand über die Konstatieruhr. Seine erste Taube überhaupt war ein Geschenk von Onkel Wilhelm zur Konfirmation. Wilhelm durfte er seit Vereinsbeitritt zu ihm sagen. Nicht jede Taube bringt einen Ölzweig – aber unsere bringen zumindest immer einen Ring –
seinen Lieblingsspruch hatte Wilhelm oft auf Versammlungen gebracht. Als Heinz schon zwei Jahre Reisender war – zum Glück nur mit äußerst wenigen Auswärtsübernachtungen –, hatte er Irmtraud kennengelernt. Sein Täubchen. So hatte er sie nie direkt genannt, aber in Gedanken war sie es immer. Die Büromöbelfirma war zufrieden mit ihm. Zuverlässig, bei den Kunden beliebt. Am Tag ihrer Verlobung hatte er eine Zweiwöchige beringt und sie Irmi genannt. Ihren Ring trägt er immer noch im Portmonee. Sein allerbestes Pferd im Schlag. Unzählige Preisflüge. Das erste Ehejahr hatte ihnen nicht nur ihre Tochter geschenkt, sondern auch die besten Zeiten überhaupt in seiner aktiven Zeit. Irmi. Das war ihre erste Saison als Alttaube gewesen. Und eins hatte er seit der Hochzeit in all den Jahren beibehalten: Bei jedem Preisflug trug Irmi einen kleinen Zettel für seine Frau heim. Ein Jahr war schrecklich gewesen, als der Marder in der Siedlung umging und auch bei ihm in den Schlag eingestiegen war –
fast die Hälfte schon totgebissen, als Heinz im Schlafanzug nach oben stürzte. Hoffentlich nicht Irmi, ging es ihm durch den Kopf. Irmi war Gott sei Dank nicht unter den Opfern gewesen. Und: Wo Tauben sind, da fliegen Tauben zu. Wilhelms zweitliebster Spruch. Bald war der Schlag wieder voll belegt. Irmi trug weiter seine Zettelchen heim. Es kostete sie Zeit. Aber das war ihm egal. Knappe, winzig kleine Liebesbriefchen, oft ähnlich. Irmtraud hatte sie alle aufbewahrt. Erst vor vier Jahren, nach ihrer Beerdigung, entdeckte er sie wieder, als er mit Hilfe ihrer Tochter Irmtrauds Kleiderschrankseite ausräumte: Eine kleine Holzkiste. Alle seine Nachrichten darin sorgsam aufgerollt. Da hatte er endlich weinen können. Im gleichen Jahr hatte er mit Horst nach der Versammlung am Tresen gestanden, wollte zahlen und hatte sein Portmonee geöffnet. Irmis Ring fiel heraus und kullerte direkt unter den Fuß der Kellnerin. Horst hatte sich für ihn gebückt, Heinz konnte ja nicht wegen der Hüfte. Verbogen.
Es klingelt. Horst. Horst grüßt ihn und witzelt. Dein Kabi ist startklar. Für diese Fahrt bleibt der Taxameter aus. Und heute Abend wird Heinz wieder von seinem Rennstall und natürlich von Irmi erzählen, als säße er daheim im Schlag. Und für Momente wird es so sein, als warte Irmtraud zu Hause auf ihn.
Anmerkungen:
(1) Benzing: eine mechanische Taubenuhr,(2) Kabi: ein Tauben-Transporter (LKW), (3) Konkurs: Zeitspanne von der ersten bis zur letzten Preistaube (das schnellste Drittel der heimkehrenden Tauben).
Christian Seiffert lebt in Sieverstedt.
Peter Suska-Zerbes
Ein fast genialer Plan
Dienstag, 28. Februar 1854.
"Anna, dieses Mal kann nichts schiefgehen!"
Theodor schaute sich nervös um, zögerte nur einen Moment, denn seine Flucht vor solchen ehelichen Auseinandersetzungen kannte gewöhnlich nur zwei Richtungen: hinauf zum Taubenschlag oder ins Zentrum von Augsburg.
Er entschied sich, seinen Ärger in der Stadt herunterzulaufen. Zwar hätte er oben im Taubenschlag mehr Ruhe, seinen Plan noch einmal durchzugehen, aber seine Gattin würde weiter mit ihrem Gekeife hinter ihm her sein.
Entschlossen nahm er den ausgebeulten Zylinder, weil es keinen Sinn machte, diesen vertrauten Streit fortzuführen. Er wusste selbst, dass es wieder einmal an allem fehlte.
Er konnte deutlich ihren skeptischen Blick in seinem Rücken brennen spüren. Zu oft hatte er ihr bereits zugesichert, dass der nächste Coup sie zu reichen Leuten machen würde.
"He, du Depp! Kannst nicht aufpassen." Der Kutscher winkte im Vorbeifahren wütend mit der Peitsche.
Theodor sprang erschreckt zurück, da er fast in die Pferde gelaufen war. "Herrschaftszeiten, dass immer alles schief gehen muss", fluchte er vor sich hin, während er die Straße hinaufstapfte. "Morgen Abend werden wir reiche Leute sein", versuchte er sich zu trösten.
Dieses Mal würde alles anders werden, schließlich hatte er dazugelernt: Beim vorletzten Mal hatte er das Pech, die gestohlene Halskette nicht schnell genug weitergegeben zu haben, sodass er den kalten Winter 1852 im Gefängnis verbringen musste. Bei dieser Erinnerung schüttelte er erbost den Kopf. Das hatte ihm passieren müssen, ihm, der in einschlägigen Kreisen als anerkannter Meister des Schmuckdiebstahls galt.
Natürlich lernte er aus solchen Missgeschicken. Er hatte darauf einen Jungen wochenlang mit mühevollen Übungen angelernt, den Schmuck zu übernehmen und sofort zu verschwinden. Der Bursche hatte seine Sache gut gemacht, zu gut. Der war sofort nach dem Diebstahl mit den Juwelen verschwunden und ... seitdem nicht wieder aufgetaucht.
Nein, man konnte in diesem Geschäft keinem trauen. Jedenfalls keinem Menschen.
Das hatte ihn damals auf diesen genialen Gedanken gebracht. Die Vorbereitungen hatten allerdings den ganzen Sommer 1853 in Anspruch genommen. Brieftauben konnten wie Rennpferde trainiert werden. Glücklicherweise fanden seine gefiederten Freunde immer wieder zu ihrem Schlag zurück.
Natürlich war er nicht so dumm, nur eine Taube auszubilden. Wie schnell konnte eine verlorengehen. Besser man hatte in einem solchen traurigen Fall eine Alternative. Aber den ganzen Sommer gab es keinen Ausfall.
Alle seine drei Tauben konnten in kleinen Behältern ein bestimmtes Gewicht tragen - dieser Tatsache hatte er sich vergewissert. Eine Halskette würde kein Problem darstellen. Er hatte verschiedene Möglichkeiten ausprobiert. Von Kaufbeuren, Kempten und sogar von Immenstadt fanden alle drei Tauben ihren Weg zurück hierhin nach Augsburg.
Gut, da war noch das Risiko mit dem Wetter. Die Fähigkeiten der Tauben, ihren Weg zurückzufinden, konnten nämlich durch ungünstige Witterungsbedingungen erheblich eingeschränkt werden. Aber mit einem Blick in den Himmel vergewisserte sich Theodor, dass alles für gutes Wetter sprach. Nein, es würde gewiss kein Problem darstellen.
Seine Frau ebenfalls nicht. Klugerweise hatte er dieser nicht von seiner neuen Strategie mit den Tauben erzählt. Wozu auch? "Du wirst schon sehen! Sie werden uns noch aus einer Notlage retten!", hatte er ihr versichert, als Anna sich wieder einmal über das ewige Gurren beschwerte.
Den Winter 53/54 hatte Theodor wie ein Klaviervirtuose genutzt, um seine Fingerfertigkeit zu üben. Er war der Beste und Geschickteste, ein wahrer König unter den Taschendieben.
Sein Plan war denkbar einfach, wie alle seine genialen Einfälle. Am folgenden Tag, am 1. März 1854, würde nach elfjähriger Bauzeit die Ludwig-Süd-Nord-Bahn in der gesamten Strecke befahrbar sein.
Die Zeitungen hatten dieses Ereignis schon über Wochen angekündigt. Er selbst würde sich in Augsburg unter die erlauchten Herrschaften mischen, und bis Lindau würde sich in dem feierlichen Eröffnungstumult die eine oder andere Gelegenheit bieten, um ...
Als angeblicher Journalist hatte er sich mit falschen Papieren eine Freifahrt von Augsburg nach Lindau sichern können. Natürlich hatte man sein Anliegen bei der Bahnbehörde verstanden, drei Brieftauben in einem Käfig mitzunehmen, um die frohe Nachricht von der ersten erfolgreichen Fahrt von Hof nach Lindau so schnell wie möglich an die Redaktion zu schicken.
Und mit den Tauben würde auch sein letztes Problem beseitigt: Die Beute aus dem Zug zu bringen. Er ging im Detail noch einmal die einzelnen Schritte durch, tastete zum hundertsten Mal nach der Fahrkarte. Alles in Ordnung!
Ein Blick auf die Sprungdeckeluhr: Zwei Stunden waren fast genauso spurlos wie sein ursprünglicher Ärger vergangen.
Er machte auf der Stelle kehrt: "Morgen um diese Zeit werden wir reich sein." Er lächelte triumphierend, rieb sich die Hände. Als Theodor sich seinem Wohnhaus näherte, wurde er doch etwas unruhiger. Die Kutsche seines Schwagers stand vor der Tür. Theodor bekam plötzlich Angst, beschleunigte seine Schritte. Seine Gattin kam ihm schon mit lachendem Gesicht entgegen: "Du hattest recht gehabt. Sie haben uns aus einer Notlage gerettet." Sie wies mit einem Finger hoch zum Taubenschlag.
Erst in diesem Moment roch Theodor den verführerischen Duft ... von gebratenen Tauben.
Peter Suska-Zerbes lebt in Kaufbeuren.
Christian Aeberhard
Doppelhochzeit
Die Tauben, schneeweiß schimmernd im behelfsmäßigen Transportverschlag, gaben weich rollende, lang gezogene Laute von sich. Traudel hatte sich hinabgebeugt und sprach ihnen mit schmeichlerischer Stimme zu. Dann wandte sie den Kopf und sagte über die Schulter: "Sieh mal, Friedebert, sind die Vögelchen nicht süß?" Sie gurrte bei diesen Worten beinahe selbst wie eine Taube und das "süß" klang als jubilierender Kiekser aus. Friedebert beeilte sich, ihr zu versichern, dass die Vögel in der Tat zum Anbeißen seien, schalt sich dann aber sogleich innerlich ob seiner Antwort, die sich ihm als unsensibel zu seinen Ungunsten auslegen ließ, zumal er erst vorgestern gleich drei Hühnerschlegel vom Grill genossen hatte. Doch Traudel achtete sich seines Kommentars nicht weiter, sie neigte sich vor – woraufhin sich ihr hochgesteckter Schleier prompt im feinen Maschendraht verfing. Traudels Reaktion, die zugleich Wehklage und ein nachdrücklicher Aufruf an Friedebert war, galant herbeizueilen, brachte die Tauben ein wenig in Unruhe: Sie ruckten mit den Hälsen, legten die Köpfe schief, und die eine oder andere flatterte kurz mit den Flügeln. "Mein Täubchen", meinte Friedebert gänzlich unnötigerweise, als er seiner Braut aus ihrer Misere half, "die Vögel sollten sich doch nicht enervieren."
Nun, wo sich Traudel und Friedebert endlich entschlossen hatten, einander doch zu heiraten, glaubten sie, ihren Familien und Freunden, die der vieljährigen wilden Ehe so duldsam gegenübergestanden waren, eine Trauung mit allen Schikanen schuldig zu sein. Traudel hatte auf eine Hochzeit in Weiß gedrängt, mitsamt einem Dutzend Hochzeitstauben: Friedeberts angehende Gattin hatte sich derlei in diversen Traumhochzeiten im Fernsehen angeschaut und sich auch in dieser Hinsicht nicht hintangesetzt wissen wollen.
Die Hochzeit in der eigens hierfür gemieteten, malerisch auf einem Hügel stehenden Kapelle versprach denn auch ohne Komplikationen vonstatten zu gehen. Nichts weniger hatte Traudel erwartet und Friedebert nichts mehr erhofft. Im Tausch der Trauringe fand die Feierlichkeit ihren Höhepunkt, und sie hätte sicherlich noch fortgedauert, wenn nicht just nach dem wechselweise beteuerten "Ja, ich will!" von Traudel und Friedebert ein naseweiser Neffe von Letzterem aus purer Neugierde den mittlerweile in der Sakristei deponierten Taubenschlag geöffnet hätte, um dessen Inhalt näher in Augenschein zu nehmen. Diese Unbedachtheit, die auch für den Urheber nachträglich nicht ohne Konsequenzen blieb, führte dazu, dass ein stattlicher Täuberich flugs aus dem Verschlag entkam und, obgleich ohne jedes Anzeichen von Aggressivität empor flatternd, ganz so, als sei er sich seines Friedenssymbolstatus wohl bewusst, bei den Hochzeitsgästen ein Mienenspiel von leisen Bedenken bis zu tiefer Besorgnis in Gang setzte. Immerhin, sollte der Vogel in all der Aufregung etwas fallen lassen, traf es mit ein wenig Glück eines der weißfarbenen, dekorativ arrangierten Rosenbouquets. Darauf – und das gereichte Traudel, die seit jeher ein sicheres Auge für Farbkombinationen hatte, zum ein wenig abwegigen Trost – fiele Taubendreck nicht weiter auf. Der Tauber indessen, den Opferstock gänzlich verschmähend, flog dicht an den Bogenfenstern mit den von der Sonne hell erleuchteten Glasmalereien vorbei, so dass es für einen Augenblick wahrhaftig schien, der heilige Franziskus persönlich lasse den im Gegenlicht zum anmutigen Schattenriss gewandelten Vogel zu Ehren der Hochzeitsgesellschaft aufsteigen.
Traudels Bruder, einem ungemein agilen Mann, gelang es schließlich, den Entflohenen einzufangen, allerdings erst, nachdem er im Jagdeifer – den Blick unentwegt nach oben zum unverdrossen vor ihm herflatternden Verfolgten gerichtet – über eine in der Tat ein wenig abenteuerlich platzierte Kniebank gestolpert war und sich dabei eine ironischerweise annähernd taubeneigroße Beule am Schienbein eingehandelt hatte. "Da haben wir den Ausreißer!", meinte er zu guter Letzt, und wer ihn dabei ansah, war sich nicht sicher, ob sein Gesichtsausdruck den pochenden Schmerz unterm Knie oder blanken Hass auf den Tauber in seinen Händen widerspiegelte. Sicherheitshalber nahm ihm jener Gast, der sich zu Hause zwar keine Brieftauben, aber immerhin Sittiche hielt, den Vogel ab und behielt ihn dann in seinen Händen, zumal man sich kurzerhand darauf einigte, den Auflass ein wenig vorzuziehen.
Jener Täuberich, der zuvor noch keck das Kapelleninnere inspiziert hatte, war denn auch erneut der erste, der sich emporschwang und dabei elegant den erhaben ungerührten, allerdings auch rostanfälligen Wetterhahn umflog. Ihm folgten die anderen Tauben hoch ins nahezu wolkenlose Blau, und während die Hochzeitsgesellschaft erst applaudierte und danach, hierbei verstummend, den entschwindenden Vögeln mit der Hand über den Augen nachsah, nahm der Tauber, die andern im Gefolge, Kurs auf seinen Heimatschlag. Die im Vergleich zu seinen graublauen Artgenossen verminderte Orientierungsfähigkeit machte der Umstand, dass im angepeilten Schlag eine Täubin seiner harrte, mehr als wett.
Die Partnerschaft zwischen jenem Tauber und seiner Täubin hielt sich in der Tat bis an dessen Lebensende im beachtlichen Alter von 13 Jahren. Und es war ihm auch in keinster Weise anzulasten, dass die Ehe zwischen Traudel und Friedebert bereits Jahre zuvor in die Brüche gegangen war.
Christian Aeberhard lebt in Brugg in der Schweiz.
Hans-Gerrit Auel
Denn wenn seine Tauben...
Er geht wieder zum Friedhof. Ich sehe wieder aus dem Fenster.
Er ist ein netter Kerl. Seine Frau starb an einem Tumor; seine drei Kinder, zwei prächtige Burschen und ein entzückendes Mädchen, kamen bei einem Autounfall ums Leben. Er blieb zurück. Ich wüsste nicht, was ich an seiner Stelle täte.
Ich bewundere ihn. Früher lagen wir einmal im Streit, als wir im Taubenverein um die Teilnahme unserer Vögel an einem Wettkampf stritten. Ich konnte mich durchsetzen; wir ließen sie starten, doch viele der guten Vögel kamen nicht mehr wieder. Damit war nicht zu rechnen gewesen.
Er war gegen den Wettkampf und sollte recht behalten.
Danach aber brach seine Welt zusammen. Ich habe noch nie einen Mann so weinen gesehen.
Als ich eine Woche nach der Beerdigung seiner Kinder zu ihm ging, wollte er mir seine Tauben schenken. Ich lehnte ab und bat ihn, sie zu behalten. "Die Tauben werden dir noch einmal wichtig werden", sagte ich, "sie würden ohnehin immer wieder zu dir fliegen. Du bist ihnen immer treu gewesen. Sie werden dir auch treu sein."
Heute sind wir uns gegenseitig dankbar. Ich weiß, er hat alles verloren; aber: er ist nicht verloren. Denn wenn seine Tauben über die Dächer der Altstadt fliegen, dann ist es so, als würde der Himmel nicht mehr schweigen. Die Gräber schweigen laut genug.
Hans-Gerrit Auel lebt in Schwalmstadt.
Iris Bergmann
Über rotem Sand
"Flieg, Sandy!" Eine zitternde Hand öffnete den Taubenschlag, und ein rötliches Tier flog ohne zu Zögern heraus.
Die Augenkamera zeigte zerborstene Leitungen und verbogenes Metall. Aus Rohren strömender Wasserdampf ließ die Sicht auf wenige Zentimeter sinken. Aber die Taube navigierte sicher nach oben, auch wenn die unterirdische Basis keine Ähnlichkeit mehr mit dem hatte, was sie kannte. Nicht die Funken ließen sie die Kabel meiden, sie spürte die zuckende Energie. Sicher suchte sie sich ihren Weg.
Metallplatten und geschnittener Stein wichen der natürlichen Magmaglätte des Höhlensystems, in das die erste Kolonie gebaut war.
Normalerweise musste sie zur Oberfläche drei Schleusen passieren, aber diese hatte die Explosion weggerissen. So vermischte sich die sauerstoffreiche, ausströmende Luft der Kolonie mit der dünnen Marsatmosphäre.
Mit einigen kraftvollen Schlägen ihrer Schwingen schraubte die Taube sich hoch in den roten Himmel. Was sie sah, wurde vom Augenimplantat gespeichert. Aber für sie selbst waren die Augen nicht wichtig.
Hatten sich die ersten Tauben noch verflogen und waren erschöpft von der Last der Atemgeräte und verwirrt durch das gegen die Erde blasse Magnetfeld irgendwann als blaugraue Federbündel vom Himmel gefallen, störte Sandy die schwache Ortung nicht. Zielstrebig flog sie nach Südwesten.
Es war das erste Mal, dass am ersten Futterpunkt niemand auf sie wartete. Der auf einem Metallpfosten befestigte Schlag war leer. Nur einige Futterkrümel fanden sich zwischen hereingewehtem Sand. Verwirrt hüpfte die Taube umher, pickte das Wenige auf und wusste nicht, was sie tun sollte.
"Weiter". Sie verstand das Wort nicht, aber den Klang. Die Stimme ihrer Trainerin im Ohrimplantat gab schließlich den Ausschlag.
Fünfzig Kilometer Strecke waren es bis zum nächsten Futterpunkt.
Es gab keine Raubvögel, keine sonstigen Feinde auf dieser Welt. Nur Sandstürme stellten eine Gefahr dar. Aber Sandy konnte die unheilvollen Luftvibrationen schon kilometerweit spüren und sich einen anderen Weg suchen. Sie wusste, dass Stürme Umwege bedeuteten. Aber in einer Welt, in der es nichts gab außer Stein und Sand, war das Erreichen des Ziels wichtiger als ein Geschwindigkeitsrekord.
Sandy und ihre wenigen Artgenossen hatten bei den meisten Marsbewohnern den Ruf, nur ein komisches, gefiedertes Hobby einiger gelangweilter Forscher zu sein. Ohne Nutzwert. Ohne Sinn.
Aus den grauen, blauen oder weißen Tauben war Sandy als sechzigste Generation hervorgegangen. Mit breiteren Schwingen, einem rostroten Gefieder, verschließbaren Nasenlöchern und zusätzlichen Augenlidern für den Fall, dass sie ein Sturm überraschte.
Die Marskanäle waren nur eine Legende, aber Sandy roch Wasser. Zweihundert Kilometer trennten sie nun von den Höhlen. Sie war die eisige Marsnacht durchgeflogen, hatte alle Futter- und Ruhepunkte leer vorgefunden, aber der drängende Durst ließ sie immer nur kurz ausruhen.
Ein Sturm hatte sie weit vom Kurs abgetrieben, und der lockende Geruch des Wassers brachte sie noch weiter weg. Es kam kein Befehl mehr über das Implantat, Sandy war auf sich gestellt. Sie entschied sich für den Umweg.
"Hast du das gesehen?" Mirko deutete zum Himmel, und sein Kollege hob den Kopf.
"Was denn? Gib lieber Gas, das Leck muss hier irgendwo sein."
Das Fahrzeug hüpfte auf seinen Ballonreifen an der Versorgungsleitung für die neuen Felder entlang. Wahrscheinlich hatte ein Sandsturm einen Felsbrocken mitgerissen und genau auf das Rohr geknallt.
"Da war ein Vogel, Frank. Ich glaube, das war eine Taube."
"Du bist auch ein Vogel. Irgendwann hörst du auf, Dinge von der Erde zu sehen. Irgendwie haben alle Neulinge hier Halluzinationen. Hier draußen gibt es nur Stein, Sand und diese defekte Leitung."
Mirko schwieg, er hatte eine Taube gesehen, er war sich absolut sicher.
Als sie acht Stunden später zur Delta-Station, der ersten nicht-unterirdischen Siedlung des Mars, zurückkehrten, herrschte dort helle Aufregung.
"Alle freien Techniker an der Shuttle-Rampe melden", quakte es aus dem Fahrzeuglautsprecher.
Frank reichte Mirko ein Atemgerät und öffnete die Fahrzeugkuppel. Sie hasteten um die Gebäude herum, zur Rampe, auf der Frachtgleiter beladen wurden.
Mirko sprang in einen Gleiter und blieb wie angewurzelt stehen. Dann ging er zu der Frau, auf deren Bein eine Taube saß.
Frank stieß Mirko unsanft. " 'tschuldigen Sie, mein Kollege hat wohl noch nie eine Frau gesehen." Frank zerrte an Mirkos Arm.
"Das ist die Taube, die ich am Wasserrohr gesehen habe."
Die Frau hob den Kopf, ohne die schützende Hand vom Rücken des schlafenden Tieres zu nehmen. "Das ist Sandy. Sie hat uns die Botschaft vom Einsturz der Alpha-Kolonie gebracht."
Mirko achtete nicht mehr auf Frank. "Es ist eine echte Taube", sagte er und kam sich dabei irgendwie dämlich vor.
Das freundliche Lächeln der Frau im blauen Forscheroverall erstarb nicht, obwohl sich Mirko wie ein Techniker-Trampel vorkam. "Ja, eine echte Marstaube."
Das Tier hatte den Kopf ins Gefieder gesteckt und ruhte sich aus. Nicht wissend, dass es jetzt einen weiteren Menschen auf dem Mars gab, der helfen würde, ihre Art zu einem wichtigen Bestandteil des Marslebens zu machen. Schließlich hatte sie bewiesen, dass Nachrichten auch noch auf eine ganz alte Art überbracht werden konnten. Wenn die Technik versagte.
Iris Bergmann lebt in Bad Camberg.
Sebastian Gräfe
Wo geht's hin, Brieftaube?
Wo geht's hin, Brieftaube?
Verwirrte Brieftaube –
Was lief schief, Brieftaube?
Was war los?
Hast Du Dich verflogen?
Wie kommst Du hierher?
Bist Du falsch abgebogen?
Oder willst Du rauf ans Meer?
Kein Bock mehr auf die Arbeit,
Kein Bock mehr auf Sport,
Für immer in die Freiheit –
Für immer raus und immer fort!
Wo geht's hin, Brieftaube?
Verwirrte Brieftaube –
Was lief schief, Brieftaube?
Was war los?
War es Bodennebel?
Erdmagnet außer Betrieb?
Pfeifst Du auf die Regel?
Oder hast Du Dich verliebt?
Nicht immer nur auf Route,
Immer nur Rekord,
Vielleicht ja auch mal Urlaub –
Oder auch für immer fort!
Wo geht's hin, Brieftaube?
Verwirrte Brieftaube –
Was lief schief, Brieftaube?
Was war los?
Sebastian Gräfe lebt in Berlin.
Frithjof Hager
Die Heimkehr der Taube
Das Haus stand an der Stadtbahn. Der Frühling kam, die Erde an den Gleisen war noch grau gefärbt, und doch: auf den Zweigen der Büsche lag ein zarter grüner Schimmer. Das Fenster stand offen, und mit ihren Krallen machte die Taube ein sanftes tippelndes Geräusch auf dem Simsblech: Hin und her, hin und her. Sie flog nicht fort, und die beiden, die da wohnten, nahmen sie herein. Und von den Schrippen von gestern bekam sie kleine Bröckchen. Der Hund, auch er lebte da, ließ ein leises Knurren vernehmen. Es waren seine Häppchen, die er sonst zum Frühstück zu sich zu nehmen pflegte. Die Taube ließ sich in die Hände nehmen, sie schien erschöpft, und matt hingen ihre Flügel.
Das Internet gab keine Auskunft, ob sie krank sei. Und es war ein Sonntag und ein Tierarzt nicht zu erreichen. Sie kam in den Kellerraum. Seine Holztüren waren morsch, verzogen und nicht mehr zu schließen. So kam sie herein und heraus. Sie flatterte auf die Lenkstange eines Fahrrades, das dort immer schon stand und rostete.
So vergingen einige Tage. Die Taube blieb. Verpflegung und Unterkunft schienen ihr recht. Von ihren Rundflügen kam sie zurück. Sie war für die beiden wie ein Feriengast, der manchmal spazieren ging, und auch der Hund bequemte sich zum höflichen Wedeln, wenn sie sich begegneten: im Kellerraum und draußen auf der Wiese, von den Büschen umgrenzt.
So lebten sie. Jeder für sich und doch alle vier zusammen, der Hund, die Taube, die Frau und der Mann.
"Jetzt geben wir ihr einen Namen."
"Dann werden wir ihr nahe sein." Das war sein Einwand.
"Also Lotte heißt sie."
Um dieses Tier zu fragen, ob es mit der Namensgebung einverstanden sei, gingen beide in den Keller. Er nahm sie behutsam hoch und fühlte an einem Bein ein Röhrchen. Die Nachricht: Eine Telefonnummer, bei der eine Stimme auf eine E-Mail-Adresse verwies.
Sie beschrieben ihre Taube als weißschwingig in hellblau mit schwarzen Binden, vermutlich ein langlatschiger Berliner Tümmler.
Und nannten ihre Postadresse.
Am Montagmorgen gegen acht Uhr klopfte es an ihrer Wohnungstür. Die Tür zum Haus habe offen gestanden. Das täte sie immer, und die Klingel sei nie in Betrieb.
Was er denn wolle, so früh. Beide waren irgendwie angezogen, Pullover, Socken, Unterwäsche – wegen der Nachtkühle, im Ofen brannten noch keine Kohlen.
Dieser Mann da, der im kleinen Flur stand, vom Hund freundlich umschnüffelt, sah etwas derangiert aus: kein Schlips, aber weißes Hemd und modisches Jackett, höhere Preisklasse, er wollte sich mit einem Ausweis wichtigtun.
"Also?"
Er sei von einem Forschungsinstitut für Kommunikationswissenschaften. Max-Planck-Gesellschaft. Beide erschauderten vor diesem Wortungetüm, gingen in die Küche zurück und gossen sich einen heißen Kaffee ein. Ob er auch eine Tasse wünsche?
Da saßen sie, der Hund zu Füßen des Gastes, die Straßenbahnzüge fuhren – wie immer in Abständen – vorbei, die Sonne kam gerade um die Ecke des Hauses, die ersten Zweige bekamen erste weiße Blüten, die Taube – "sie heißt Lotte" – rief mit Gurren. "Sie ist gerade zurückgekommen von ihrem ersten Spazierflug am Vormittag."
"Aha." Mehr wusste der Mann ohne Schlips nicht zu sagen.
"Wir hören."
Sie hätten da ein Forschungsprogramm, von der Industrie bezahlt – und es folgten Worte über Worte, schrecklich und schmerzhaft für die Ohren, so grässlich klangen sie, und immer wieder drang dabei die Buchstabenfolge operative Kommunikation hervor.
Ob er das klare Sprechen verlernt habe. Sie bäten ihn, es schlicht und einfach auszudrücken. Ob er dazu einen Schnaps brauche.
Der Mann im weißen Hemd brauchte noch zwei Schnäpse und noch einen Milchkaffee dazu.
Ach so. "Haben wir das richtig verstanden: jede Nachricht, die über das Netz geht, ist schnell und nicht mehr geheim wegen der Elektronik. Wer will, kommt da an alles ran, was da geschrieben wird."
Das Netz sei zwar schnell, aber zugänglich für jeden – so sei es.
Und deshalb müsse Lotte ran?
"Ja, eben. Wer achtet schon auf Tauben?"
"Wir."
"Brieftauben sind zwar langsam, aber echte Geheimnisträger. Und wir prüfen."
Beide grinsten. Diese Sprache der Behörden.
"Wir prüfen, ob sie verlässlich sind."
"Und: Ist sie es?"
Wann denn diese Taube – "Lotte!" – bei ihnen eingetroffen sei.
Irgendwann in der letzten Zeit.
"Haben Sie denn keinen Kalender?" Und eine Uhr hätten sie auch nicht. Ob er denn Lotte kennenlernen wolle? "So ein zutrauliches Wesen." "Und so hübsch."
So viel Zeit habe er nicht. Er komme noch einmal wieder.
"Tun Sie das." "Oder lassen Sie's."
Dr. Frithjof Hager lebt in Berlin.
Regina Holzkämper
Abschied von Carrie
Jedes Mal, wenn ich auf dem Marktplatz meines Wohnortes die gefräßigen, bunt gefiederten Stadttauben beobachte, denke ich sehnsüchtig an Carrie, die Brieftaube. Sieben kostbare, erlebnisreiche Tage war sie in meinem Anwesen am Rande der Großstadt mein Gast.
Alles begann an einem heißen Nachmittag im Mai des vorigen Jahres. Müde schleppte ich mich die Einfahrt entlang zur Türe meines Hauses, beladen mit Stapeln von gelben Klausurordnern. Und da lagen bereits diejenigen, die ich mir unter den linken Arm geklemmt hatte, reihenweise auf dem zum Glück trockenen Erdboden. Mühsam ging ich in die Knie, um sie wieder einzusammeln – und befand mich da plötzlich Auge in Auge mit einer wunderschönen, zutraulichen Taube. Mit ihrem schmalen, kräftigen Körperbau, der hellgrauen Zeichnung des Gefieders mit den zwei schwarzen Flügelbinden und der weißen Verdickung auf dem Schnabel sah sie so ganz anders aus als ihre fetten Verwandten in der Stadt.
Vorsichtig richtete ich mich auf und war sehr verwundert, als sie mir auf dem Fuße folgte, zierlich und artig einen Fuß vor den anderen setzend. Mit der größten Selbstverständlichkeit hüpfte sie bis zur Haustür, wartete jedoch auf der letzten Stufe ab. Ich war verwirrt – wie sollte ich mich verhalten? War das Tierchen verletzt, hatte es Hunger oder Durst? Ich beschloss, es erst einmal zu bewirten. Zum Glück hatte ich noch mein altes Biologiebuch im Bücherschrank und überflog schnell das Kapitel über Tauben. "Tauben sind Körnerfresser...", das genügte mir, und schon lagen Weizen- und Dinkelkörner aus meinen Frühstückszutaten in einem Unterteller, ein Schüsselchen Wasser konnte auch nichts schaden.
Ob sie wohl noch draußen stand?
In der Tat hatte sie geduldig gewartet und nahm die angebotene Stärkung gerne in Empfang. Gierig fraß sie und trank, und es fiel mir schwer, sie während der Mahlzeit nicht zu streicheln oder zu kraulen. Nach dem Essen hüpfte die Taube elegant die Stufen hinab, eilte mit schläppelnden Schrittchen die Einfahrt entlang und erhob sich ohne Hast in die Luft. Trauer überkam mich. Mit einem Schlag lag der langweilige und anstrengende Korrekturtag vor mir, der verwahrloste Haushalt, die unerledigte Post, der Ärger mit der Schulbehörde. Alles erschien mir nun doppelt lästig und trostlos.
Gegen Abend trat ich noch einmal vor die Haustür, dehnte und streckte mich ein bisschen und ging ein paar Schritte in der Hofeinfahrt auf und ab. In der Dämmerung nahm ich ein leises Gurren hoch über mir wahr. Erstaunt hob ich den Blick – und da sah ich die Taube, die es sich auf dem Dachfirst des Hauses bequem gemacht hatte. Als sie mich sah, flog sie herab und landete direkt vor mir. Sie legte ihr Köpfchen schief und schaute mich erwartungsvoll an. Ich lief ins Haus, holte eine Handvoll Körner und ging in die Hocke. Dieses Mal gelang es mir, die Taube aus der Hand zu füttern. "Carrie", flüsterte ich glücklich.
Der Name war mir spontan eingefallen, weil mich in der letzten Woche Schüler meines Leistungskurses nach der englischen Bedeutung des Wortes "Brieftaube" gefragt hatten. Beschämt musste ich zugeben, dass ich es nicht wusste und erst nachschlagen musste. "Carrier pigeon" war der korrekte Begriff, das hatte ich so schnell nicht mehr vergessen.
Carrie war nun satt, und nach ein paar tänzelnden Schritten flog sie auf zu ihrem Nachtquartier, dem Firststein des Hauses.
Ich konnte lange nicht einschlafen und musste im Morgengrauen den Wunsch unterdrücken, im Nachthemd nach draußen zu laufen, um zu schauen, ob Carrie noch da war.
Herzklopfend verließ ich am nächsten Morgen das Haus. In der Einfahrt saß Carrie und wartete auf ihr Frühstück. Ich brachte es ihr freudestrahlend. "Ich bin heute schon früher da, Carrie. Pass auf dich auf, denk an die Katzen!" Als ich losfuhr, saß Carrie bereits wieder auf dem First.
So ging das einige Tage lang. Eine grauweiße Schmutzspur sammelte sich auf dem Pflasterboden unter Carries neuem Heim und bewies, wie wohl sie sich bei mir fühlte. Längst durfte ich sie streicheln und ihre Halsfedern kraulen, und dabei war mir natürlich nicht entgangen, dass Carries linken Fuß eine Metallklammer zierte. Wohl oder übel musste ich die Telefonnummer darauf zur Kenntnis nehmen und schob den Anruf beim Besitzer Tag für Tag auf.
Endlich rang ich mich durch und tätigte während einer Arbeitspause das verhasste Gespräch. Der Züchter aus dem Rheinland war wirklich dankbar, notierte meine Adresse und meine Telefonnummer und erbot sich, die Taube abzuholen.
Aber bereits zwei Stunden später – Carrie hatte mich nicht wie sonst begrüßt, indem sie ihren luftigen Sitz verließ und sich bettelnd vor mir niederließ – erhielt ich einen Anruf von weither. Carrie war wieder angelangt in ihrem eigentlichen Zuhause.
Ich bemerkte, dass sich in meine Enttäuschung auch Dankbarkeit mischte. Die Welt war heller und strahlender geworden in dieser vergangenen Woche. Die Probleme des Alltags gewannen eine neue Dimension, erschienen machbar, ließen Abstand zu.
Aber noch immer geht mein erster Blick, wenn ich nach der Arbeit nach Hause komme, hinauf zum First meines Daches. Uneingestanden warte ich darauf, dass Carrie bei einem ihrer Kurierflüge wieder bei mir Halt macht und unsere Freundschaft wieder aufleben lässt.
Regina Holzkämper lebt in Neckarbischofsheim.
Lothar Kowalke
Voll daneben
Das Foto verriet alles. Nicos Blick, der sich durch die Kamera zu bohren schien, glich einem Hilferuf. Ich hatte ihn damals so postiert. Das Gewehr über die Schulter gehängt. Die Flügel der Taube so ausgebreitet und in seine Finger geklemmt, dass ihre Größe ja seiner ebenbürtig schien. Was hatte mich bloß dazu getrieben? Alles von damals ist mir noch glasklar im Sinn. Leider!
Geborgen in der Annahme, alle schliefen noch, leerte ich am Walnussbäumchen meine Morgenblase. Beim Abschütteln der letzten Tropfen war mir, als beobachte mich jemand. Es war so. Eine fette, grau-bläuliche Taube, die auf dem Dachfirst thronte, starrte mich an. Ich streckte meinen Arm mit flacher Hand in ihre Richtung und imitierte einen Schuss. "Peng!", zischte ich. Sie ließ sich nicht beeindrucken. "Na warte!", drohte ich und rannte ins Haus. Das war die Gelegenheit. "Nico, wo ist die Knicker?", rief ich in das noch abgedunkelte Zimmer meines Sohnes. Er rieb sich die Augen und schaute, als wüsste er nicht, ob er wach sei oder träume. Ich half: "Komm! Auf dem Dach sitzt ein fetter Braten, der von dir erledigt werden möchte."
Zwei Tage war das Luftgewehr alt. Ein Ferien-Geschenk. Bis dahin schossen wir nur auf eine Pappscheibe am Schuppen, weil sich partout kein lebendiges Ziel zeigen wollte. Nico stand auf, entnahm seinem Kleiderschrank die Knicker und folgte brav. Beim Hinaustreten spannte ich das Gewehr und legte meinen Zeigefinger auf die Lippen. "Psst." Wir hatten Glück, die Taube saß unverändert am gleichen Fleck. "Kimme-Korn. Ruhig atmen. Langsam bis zum Anschlag ziehen und dann, wenn du sicher bist, Schuss!", flüsterte ich und korrigierte leicht seine Fuß- sowie Armhaltung. Gesagt, getan. Es knallte, und das Diabolo-Geschoss tänzelte zwei Meter vor der Taube über den Biberschwänzen. Was war mit ihr? Sie zuckte nicht einmal. "Gut so! Noch einmal!", sagte ich und lud neu.
Bestimmt musste die Entfernungseinstellung neu justiert werden, aber ich traute weder meinem Fachwissen noch meiner Geduld und sagte stattdessen: "Ziele jetzt etwas über die Taube!" Nico mit seinen neun Jahren zielte folgsam ein zweites Mal. Ich murmelte tonlos: "Bitte lieber Gott, gönne meinem Sohn einen Treffer!" Jetzt klirrte die Kugel kurz vor ihren Füßen. Mir war, als löste sich auch eine Daunenfeder, und ich sah die Taube schon in die Lüfte steigen. Nichts von alledem. Schlimmer, sie schaute, als fände sie uns bemitleidenswert. "Treffer. Gut geschossen! Jetzt noch ein winziges Stück höher, und du hast sie", sagte ich betont ruhig. Aber was war mit der Taube los? Verkohlte sie uns - war sie krank? Egal, Hauptsache er, mein lieber Sohn, bekam sein Erfolgserlebnis, sein Ferienerlebnis.
"Peng." Die Taube plumpste beim dritten Schuss tatsächlich vom Dach. Wie ein Mehlsack. Direkt zu Nicos Füßen. "Klasse, ein Meisterschuss!", lobte ich. Er lugte ängstlich zu der toten Taube. Ich war mir natürlich sicher, dass er glücklich war. "Ruth! Komm bitte und bring den Fotoapparat mit!", rief ich nach meiner Frau. Mehr als vorsichtig kickte ich mit der Fußspitze gegen die Beute. Zweifelsfrei, sie war tot. Trotz allen Widerwillens bückte ich mich nach der Taube. Was blieb mir auch übrig, ich war der Vater. Zu meinem Schrecken entdeckte ich dabei an jedem Bein der Taube jeweils einen Ring. "Mist!", fluchte ich, ohne mir etwas anmerken zu lassen, und hoffte, kein anderer würde die Ringe zur Kenntnis nehmen und Fragen stellen. Zum Glück zeigte Nico kein weiteres Interesse an der Taube.
Ich fragte mich nicht, warum. Selbst Ruth entging das Korpus-Delikti. Sie hatte nur Augen für ihren Sohn. Nach der historisch wichtigen Aufnahme hatte ich nichts Eiligeres zu tun, als die Taube neben unserem verstorbenen Meerschweinchen Stella zu bestatten. Weder Nico noch Ruth hegten Einwände oder bestanden auf ein Taubenmahl.
Nico, jetzt selbst Familienvater, betrat mein Zimmer, um mich zum Essen zu bitten. "Was hast du da?", wollte er wissen. Ich faltete das Foto, schob es auf den Grund der Lade und sagte: "Ach nichts. Ich dachte, ich stelle alte Fotos zusammen, die wir uns zusammen anschauen könnten." "Muss das sein?" Durchaus nicht, dachte ich und verneinte.
Lothar Kowalke lebt in Berlin und in Uchtenhagen.
Meike Krebs-Fehrmann
Das Rennpferd der kleinen Frau
Silberfeder wohnte bei einer kleinen Frau. Wenn die kleine Frau Besuch bekam, sagte sie oft stolz: "Seht nur, das ist Silberfeder, meine Brieftaube." Aber sie wusste selbst, dass es nicht stimmte. Einen Hund kann man besitzen, vielleicht auch eine Katze, aber keine Taube und schon gar keine Silberfeder. Natürlich konnte sie zutraulich, manchmal sogar zärtlich sein, aber in ihrem Innersten zog es sie doch immer wieder hinaus an den blauen Himmel am Tage oder zu den Sternen in der Nacht. Weil die kleine Frau das wusste, sperrte sie Silberfeder nie ein, denn sie wollte die Taube nicht kränken oder gar verärgern. Schließlich wusste Silberfeder doch, wo sie hingehörte und kam immer wieder zurück. Man könnte sagen, die kleine Frau und die Taube lebten wie Freunde unter einem Dach. Oben Silberfeder und unten die kleine Frau.
Eines Abends sprach die kleine Frau zu Silberfeder: "Meine Schöne, wenn ich nur ein einziges Mal mit dir in den Himmel fliegen könnte, die Wälder, Wiesen und Seen von oben sehen, das würde mich sehr glücklich machen." Die Taube gurrte, wie es ihre Art war, schaute die kleine Frau etwas mitleidig an, denn sie hatte sich schon oft gefragt, wie es die Menschen nur aushalten konnten, Tag für Tag auf ihren Füßen zu stehen und die Welt niemals von oben zu sehen. Natürlich wusste die kleine Frau, wie die Welt von oben aussah, denn sie hatte Fernsehen, war schon einmal mit dem Flugzeug nach Mallorca geflogen und hatte einen Bildband über den Weg der Zugvögel zum Geburtstag bekommen. Aber sie wusste nicht, wie sich der Wind in den Haaren anfühlte, weit oben am Himmel, das Gefühl von Freiheit, wenn die Fesseln der Schwerkraft für einen Moment an Bedeutung verlieren, die Kälte der Mondscheinnacht auf der Haut brennt, nichts um sie herum als nur Luft. Silberfeder bedauerte die kleine Frau. Und da beschloss sie, etwas zu tun, das nur ganz wenige Brieftauben je getan haben.
Silberfeder blinzelte der Frau drei Mal zu, flog auf ihren Kopf und schiss ihr ordentlich auf das Haar. Noch bevor sich die kleine Frau beschweren konnte, begann sie sich zu drehen, immer schneller und schneller, schrumpfte und schrumpfte, und mit einem kleinen 'Pling' saß sie plötzlich winzig wie eine Mensch-ärgere-dich-nicht-Figur in ihrem riesigen Sessel. Die Taube kam ihr hingegen ungeheuer groß vor und sie fürchtete sich ein wenig.
Aber Silberfeder stupste sie sanft an, gurrte noch einmal aufmunternd und streckte ihr Bein aus. Die kleine Frau schlüpfte in den Behälter hinein, so dass nur noch ihr winziger Kopf oben herausguckte. Silberfeder breitete die Flügel aus, und ab ging es zum Fenster hinaus. Der kleinen Frau wurde ganz übel und sie bekam fürchterliche Angst. Gerne hätte sie um Hilfe gerufen, aber ihre Stimme war so leise und piepsig, dass niemand sie gehört hätte. Die Abendsonne glühte rot am Himmel und Silberfeder stieg höher und höher. Mit zarten Flügelschlägen, um die kleine Frau nicht unnötig zu erschrecken, glitt sie durch die kühle Luft. Die kleine Frau wagte kaum zu blinzeln, als sie ihr eigenes Haus von oben sah. Es wurde immer kleiner und kleiner, bis sie es kaum mehr erkennen konnte.
Aber da war ja auch der große Wald! Die dunklen Fichten wiegten sanft im Wind. Ein bisschen gespenstisch vielleicht, dachte die kleine Frau, aber es gefiel ihr ganz gut. Und als sie schließlich über die Stadt segelten und sie den Kirchturm von oben sah, musste die kleine Frau lachen. Sie lachte über die winzigen Autos und Häuser, die stecknadelgroßen Bäume und darüber, dass sie so ein großes Glück hatte, eine Freundin wie Silberfeder zu haben. Die Stadt war in warme Orange- und Rottöne gekleidet, die Berge am Horizont glänzten majestätisch, und plötzlich wurde der kleinen Frau ganz leicht ums Herz. Ihre Sorgen wurden vom Wind davongetragen, die kleinen Ärgernisse des Alltags, die Zweifel am eigenen Können und die Angst davor, alleine zu sein und alt zu werden. Die Weite des Himmels war nun auch ihr Zuhause, das sie aufnahm und trug. Schließlich wurde es ganz und gar dunkel. Die ersten Sterne leuchteten am Himmel, der Mond schaute blass hinter einer Wolke hervor. Silberfeder aber kannte ihren Weg trotz der Dunkelheit genau. Sie trug die kleine Frau sicher wieder nach Hause, durch das Fenster bis in ihr Bett, und die kleine Frau schlief augenblicklich ein, so erschöpft war sie von ihrem abendlichen Ausflug.
In dieser Nacht träumte die kleine Frau von Silberfeder, vom Mond und den Sternen, und zum ersten Mal seit vielen Jahren wachte sie in den frühen Morgenstunden vollkommen ausgeruht und glücklich auf. Sie lag in ihrem warmen Bett, nun wieder in voller Größe von einem Meter vierundfünfzig, und lauschte auf das leise Gurren im Dachstuhl. "War das ein schöner Traum", sagte die kleine Frau zu sich selbst und gähnte ausgiebig, "ich wünschte, ich könnte fliegen." Und so schloss sie nochmals die Augen, drehte sich um und träumte noch ein bisschen weiter. Nur über den Kackfleck auf ihrem Haar hat sie sich später etwas geärgert.
Also nimm dich in Acht, wenn dir eine Brieftaube dreimal zublinzelt, sich auf deinen Kopf setzt und einen ordentlichen Klacks hinterlässt. Denn dann hast du vielleicht die Möglichkeit, die Welt mit ganz anderen Augen zu sehen.
Meike Krebs-Fehrmann lebt in Wiesbaden.
Katharina Kretschmer
Tauben...
"Tauben... Tauben! Tauben auf meinem Beet! Aarrrgh...!!" Wutentbrannt streiche ich meinen Pony hinters Ohr und renne zur Hintertür hinaus. Hinter mir fällt der zu waschende Teller mit einem klirrenden Geräusch unsanft ins Waschbecken (hoffentlich geht nichts kaputt!), doch ich habe nur Augen für mein wundervolles Frühlingsbeet. Mein Frühlingsbeet, auf dem nun zum wiederholten Male zwei fette, hellgraue Tauben sitzen. Darf mickriges Geflügel das überhaupt? Solche Maße annehmen?! Ach ja... Stimmt, es sind diese Monster vom alten Ertels! Brieftauben... Oder wie auch immer er sie nennt. Seit Jahrhunderten wichtige Freunde und Helfer des Menschen. Pah! Dass ich nicht lache! Dumme Gefieder-Viecher sind das, nichts weiter! Wenn auch nur eines dieser Biester jemals –
"Kann ich Ihnen helfen?"
"Herr Ertels... Oh, ähh... ja, also... Was tun Sie denn hier?"
"Nun, eigentlich würde ich gern meine Täubchen von Ihrem Grundstück holen. Ich denke, dies geschieht in Ihrem Interesse." Ohne meine Antwort abzuwarten, schlürft er in seinem typischen Alter-Mann-Gang über meine Wiese. Die zarten Knospen, sich vorsichtig zur Sonne neigend, die winzigen Blütlein und die hauchdünnen, gerade vom warmen Wind erwachten Gräserchen..., alles das entschlüpft zur Seite, versucht, den Schritten des Alten zu entkommen. 'Ach du heiliges Makrelchen!', fährt es mir durch den Kopf, und ich balanciere hinter Ertels her, tapfer darum bemüht, den Schaden auf ein Minimum zu begrenzen. "Aar... Das war der Wiesen-Bocksbart! Und – O nein! Meine Lichtnelken! Sagen Sie, Herr Ertels, macht das Ihnen Spaß, mein Lebenswerk zu ruinieren!?" Diese Antwort bleibt er mir vorerst schuldig. Stattdessen hockt er sich mitten in meinen Garten und beginnt mit zuckersüßer Stimme zu rufen: "Reesa... Reesa? Kommst du her? Hierher. Caruso?" Sein sonst so mächtiges Stimmorgan klingt ganz sanft. Augenblicklich strecken sich zwei Köpfe aus meinem Beet hervor. Ohne Zögern machen sich beide Tauben auf zum alten Ertels. Der steckt sie in einen mitgebrachten Käfig, den ich zuvor nicht bemerkt hatte, und dreht sich um. "Ich bedauere es, Sie gestört zu haben, Frau Böhmer." Es klingt aufrichtig, der zarte Ton ist gänzlich verschwunden.
"Ich..." Ich zögere, überlege, suche nach einer Antwort. Ich entscheide mich für die Wahrheit. "Ich hätte nicht gedacht, dass Ihre Tauben sich so leicht einfangen lassen. Da muss ich passen. Wenn ich sie verjagt habe, kamen sie immer einige Minuten später zurück." Ein leichtes Lächeln umspielt Ertels Augen. "Darin liegt Ihr Fehler. Machen Sie's mit Liebe, alles gelingt." Er winkt mit der freien Hand und lässt mich verwirrt zurück. "Herr Ertels?? ähm... Würden Sie mir vielleicht etwas näher erklären, wie das mit den Tauben funktioniert? Vielleicht morgen, bei einer Tasse Kaffee, bei mir?" – "Oh, gerne, aber ich trinke nur Tee. Und wenn wir uns treffen, um über Tauben zu reden, dann doch bitte bei mir." Er grinst ironisch. "Woher der Sinneswandel? Mir schien es, als könnten Sie meine Briefies nicht besonders leiden." "Ich muss heute wohl einen schlechten Tag erwischt haben!", gestehe ich in meiner üblichen, allzu direkt ehrlichen Art. Mein Nachbar kehrt mir den Rücken zu, wortlos. "Oder einen besonders guten!!", rufe ich ihm hinterher. Keine Antwort.
Exakt vierundzwanzig Stunden später klingelt es an einer Tür. An seiner. So lasse ich mich nicht abspeisen, außerdem haben die Tauben mein Interesse tatsächlich geweckt. Ich höre den dumpfen Ton der Klingel und einen Schwall Vogelgezwitscher. Eine menschliche Antwort allerdings nicht. Ich kann warten. Nach dem dritten Klingeln beginne ich, vorsichtig nach oben zu spähen. Ob er mich von einem der zugehängten Fenster beobachtet? Zuzutrauen wäre es dem Mann ja. Tattriger, alter Greis. "Ich weiß, dass Sie da sind!", rufe ich laut über das Tor. Einige Sekunden später schäme ich mich – wenn das ein Nachbar gehört hat!? "Meinen Sie mich?" Das breite Grinsen ist hörbar, ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer dort steht. "Tut mir leid, wenn Ihr Klingeln nicht beantwortet wurde. Sie müssen wissen, ich war einkaufen..." Alles Geld, das ich habe, würde ich in diesem Moment darauf verwetten, dass er es so geplant hatte, vielleicht sogar hinter einem Haus oder einer Hecke auf mich gewartet hatte. Nur nichts anmerken lassen... "Ich hoffe, Sie haben unsere Verabredung nicht vergessen?", frage ich mit dem charmantesten Lächeln, und er spielt mit. "Selbstverständlich nicht, gnädige Frau!" ...
"Nein, nein, geboren bin ich nicht in Belgien, aber die meisten und vor allem schönsten Erinnerungen liegen dort. Wissen Sie, ich komme eigentlich aus Deutschland, genau genommen aus Kassel. Mein Vater war ein begeisterter und erfolgreicher Reiter, und er besaß einige Brieftauben. Nicht viele, genug, um sie mit den Pferden mitzuführen und dann an einem Ort loszulassen und zuzusehen, wie sie gen Himmel nach Hause flogen. Mein Vater liebte das, und so deprimierte ihn das 'Brieftauben-Gesetz' von 1938. Deprimiert ist untertrieben, es zerrüttete ihn innerlich! Als bekannt wurde, dass Juden überhaupt keine Tauben mehr halten dürfen, brachte es meinen Vater fast um!!"
"Sie sind jüdisch?"
"Nein! Zumindest sehe ich mich nicht als Jude. Der Vater meiner toten Mutter war jüdisch, das reichte, um uns allen unsere Existenz zu nehmen..."
"Wie schrecklich..."
"Anfangs wussten wir das nicht einmal! Meine Mutter war gestorben, als ich wenige Wochen alt war, und sie und mein Vater hatten sich bis zur Hochzeit am Tag vor meiner Geburt erst wenige Male gesehen. Mein Vater kam über den plötzlichen Tod meiner Mutter nie hinweg..."
Ich schlucke. Mir fällt keine Antwort ein.
"Schließlich wanderten wir nach Belgien aus." Herr Ertels Stimme klingt aufgeräumt, und ich weiß, dass es zu spät ist, um noch etwas über seine Eltern zu sagen. "Sie wissen bestimmt, dass Belgien von den Deutschen überrannt wurde. Dennoch blieben wir neutral. Meine Familie musste teilweise versteckt leben und durfte sich nicht zu sehr öffentlich zeigen. Aber es ging, und wir überlebten. Nach dem Krieg wohnten wir noch bis 1949 in einem Dorf an der Atlantikküste."
"Nur bis 1949? Wohin gingen Sie danach?"
"Na, zurück nach Deutschland!"
"Bitte?!" Mir fällt die Kinnlade herunter. "Sie kehrten zurück nach Deutschland, nach allem, was Ihnen hier passiert war?"
"O ja! Verstehen Sie, etwas soo unglaublich Bestialisches wie so vielen anderen war uns nicht passiert, und mein Vater träumte davon, wieder Fuß zu fassen in seinem Sport. – Nein, es gelang ihm nicht...", beantwortete er meine ungestellte Frage. "Wir kauften ein kleines Haus in Kassel und mein Vater arbeitete in einer großen Holzfabrik. Er vermisste sein früheres Leben hier, und eines Tages, ich kam gerade von meinem ersten Arbeitsplatz, saßen zwei Brieftauben in einer Voliere hinter unserem Haus. Ich gebe zu, anfangs behagten mir diese Geschöpfe nicht." Er lacht. "Wahrscheinlich habe ich ähnlich wie Sie gehandelt und die Tiere terrorisiert, wo es nur ging!!"
Empört schnappe ich nach Luft! Die wenig freundliche Antwort bleibt mir jedoch im Hals stecken, der Mann hat Recht. Er lächelt über meine Miene, und nach ein paar Sekunden stimme ich ein.
"Als mein Vater 1967 starb, kam das überraschend. Ich brachte es nicht übers Herz, den Lebensinhalt meines Vaters zu verkaufen, zumal er sich zu dieser Zeit schon viel aufgebaut hatte und Züchter aus ganz Deutschland, ich möchte fast sagen, aus ganz Europa, um seinen Rat baten."
"Also führten Sie die Zucht fort...", sage ich.
"Ja, das tat ich. Wollen Sie einige Tiere sehen?"
"Natürlich, bitte!"
Er führt mich zu einigen Volieren und erklärt allerlei, über Witwer, die von ihren Weibchen getrennt werden müssen, das richtige Füttern, Sämereien und Erdnüsse, Futterrinnen, Freiflug und über die ewige Diskussion über Einheitsnahrung und Krankheiten und die Kalk- und Magnesiumversorgung der Vögel. Ich verstehe nicht viel, trotzdem interessiert es mich, und ich höre gespannt zu.
Eine seiner Tauben hat es mir besonders angetan. Zaba. Eine wunderschöne, dunkelgraue Taube aus Belgien. Sie ist sehr zahm und laut Herrn Ertels kaum noch zu etwas zu gebrauchen. "Sie ist mein Haustier, ich halte sie nur zum Spaß", sagt er. In diesem Moment verstehe ich, was er mit Tauben als Haustiere meint, denn der warme, weiche Körper fühlt sich wunderbar an, und der Blick aus diesen fast schwarzen Augen fesselt.
"Mh..." Der Ertels lächelt. "Jetzt sind es fast 50 Jahre, dass die ersten beiden Tauben hier einzogen."
"Die Geschichte ist sehr schön!! – Oh, entschuldigen Sie, ich meine..."
"Doch, sagen Sie es nur! Die Geschichte ist gut ausgegangen."
"Sie ist noch nicht zu Ende..." Jetzt lächele ich und beobachte, wie Reesa und Caruso majestätisch in meinem Beet landen und es mich komischerweise mit Stolz erfüllt, dass sie offenbar auf meinem Frühlingsbeet die richtigen Sämereien finden.
"Och, jetzt hätte ich Ihren Tee beinahe vergessen!", fällt dem Alten ein.
"Deinen...", sage ich lächelnd. "Bitte nennen Sie mich Marina..."
Wir beide wenden uns zur Tür, während drei weitere Brieftauben Kurs auf meinen Garten nehmen...
Katharina Kretschmer ist 16 Jahre alt und lebt in Erfurt-Kerspleben.
Bettina Lichtner
Himmlischer Brieftaubentanz
Sehe ich euch himmelwärts
ach, wie schlägt mir dann das Herz.
Wie ihr durch die Lüfte jagt:
würdevoll und unverzagt!
Höre ich den Flügelschlag
jedes Mal am Freiflugtag
ist's Musik in meinem Ohr.
Allerschönster Taubenchor.
Fröhlich fliegt ihr hin und her,
und ich freue mich so sehr,
euch nur dabei zuzuseh'n.
Dieser Anblick ist zu schön.
Rechts und links und "up and down"
diesem Kunststück zuzuschau'n
bringt das Züchterblut in Fahrt.
Euer Ziel ist euer Start.
Brieftauben in wildem Tanz
bringen selbst dem Himmel Glanz.
Dieser Flug am Himmelszelt
ist für mich die ganze Welt.
Seid bald schneller als der Wind;
lieb' euch wie mein eignes Kind.
Freu' mich, wenn ihr unversehrt
stets zurück nach Hause kehrt.
Tanzet, flieget, fühlt euch frei!
Seid mit ganzem Herz dabei.
Und ich sag' mit Stolz fürwahr:
Ich lieb' meine Taubenschar!
Meine Tauben geben Kraft
wenn das Leben mich mal schafft.
Sie sind ehrlich, sie sind treu!
Sie vertrau'n mir, sind nicht scheu.
Und nur der kann mich versteh'n,
der den Taubenflug geseh'n.
Ihr seid meines Lebens Sinn,
ganz egal, wo ich auch bin.
Bettina Lichtner lebt in Oldenburg.
Irmgard Manno-Kortz
Legende mit Brieftaube
Zur gleichen Zeit, als der Kapuziner erzählte, wie er mit der Hexe fertiggeworden war – er hatte festgestellt, dass sie kein Latein konnte, also redete kein Dämon aus ihr (Dämonen sprechen bekanntlich Latein), sie war nur ein dummes Ding, das Prügel verdiente – hier trank er einen Schluck Bier und wischte sich den Schaum vom Bart –, zu der Zeit sah die alte Henrike in der Ecke ihres Hühnerauslaufs eine weiße Taube sitzen. Ihr Enkel Ansgar hörte sie murmeln: "Komm, Heiliger Geist." Das Tier ließ sich ruhig aufheben, es war wohl an Menschen gewöhnt. Er stellte fest, dass es eine Metallkapsel mit einem beschriebenen Zettel darin am Bein trug. Geschriebenes flößte ihm Respekt ein. Niemand, den er kannte, konnte lesen, und so beschloss er, die Taube mit der Kapsel zum Bischof zu bringen; der könnte etwas damit anfangen.
Bischof Dietrich wartete auf die letzte Brieftaube. Er hatte seine Tauben 60 Meilen weit zu einem Freund bringen lassen. Die Kosten der Reise lohnten sich. Zum einen konnte er so die Überlegenheit seiner Züchtung zeigen, zum anderen bewies er den Vorteil, den die Nachrichtenübermittlung durch Brieftauben gegenüber der durch Boten hatte. Kürzlich war ein Bote von Dörflern, die ihn für einen Werwolf hielten, erst mit Steinen beworfen, dann totgeschlagen worden. Der Bischof fürchtete, die Taube sei zu schwach oder habe die Orientierung verloren. Kraft und Klugheit ließen sich schwer zusammen mit der weißen Farbe beim selben Tier züchten. Der Diener versicherte, die Taube werde bestimmt am nächsten Tag kommen.
Am nächsten Tag ging Angela, die Hexe, zur Pumpe, um Wasser zu holen. Sie hatte Angst, aber ihr Vater verlangte, sie solle der Mutter helfen. So schlich sie möglichst unauffällig um die Ecke zum Pumpenplatz. Mehrere Frauen aus der Nachbarschaft standen um die Pumpe herum. Eine der Frauen erblickte Angela, zeigte mit dem Finger auf sie und schrie: "Die Hexe vergiftet unser Wasser!" Angela ließ den Eimer fallen und hielt sich mit beiden Händen abwechselnd Ohren und Augen zu.
Die Taube sah und hörte nichts, denn Ansgar hatte sie in einen Deckelkorb gesperrt. Sie wäre gern ihrem dunklen Gefängnis entwischt. Kurz vor Paderborn bekam sie ihre Chance. Ein Schäfer stellte sich Ansgar in den Weg und bedrohte ihn: "Du Werwolf, man sollte dich totschlagen!" Ansgar, ein kräftiger junger Mann, setzte den Korb ab, gab, wie er später berichtete, dem Schäfer eins aufs Maul, dieser fiel über den Korb, rappelte sich aber wieder auf und floh. Ansgar stellte fest, dass der Botengang nach Paderborn sich erledigt hatte, denn der umgekippte Korb war leer. Ansgar zuckte mit den Schultern und machte sich auf den Rückweg.
Auf die Frage, was das Geschrei auf der Straße zu bedeuten habe, zuckte der Diener nur mit den Schultern. So ging der Bischof selbst aus und folgte dem Strom der Menschen zum Markt. Dort war bereits ein Scheiterhaufen errichtet worden. Ein Mädchen von etwa 13 Jahren wurde herbeigezerrt und auf das Holz geworfen. Sie kauerte sich zitternd zusammen. Die Menge begann nach Feuer zu schreien, und der Bischof erwartete, dass jeden Moment jemand das trockene Holz in Brand stecken würde. Er stand mittlerweile in der vordersten Reihe. Seine Gefühle schwankten zwischen Ekel vor der Dummheit und Grausamkeit der Leute und Mitleid mit dem Mädchen. Er tat nichts, denn er fürchtete, die wütende Menge würde ihn trotz seines Amtes lynchen, falls er der Hexe zu Hilfe käme. Er fühlte sich orientierungslos wie nie zuvor.
Die Taube hatte die Orientierung wiedergefunden. Sie kreiste über dem Marktplatz und landete dann vor dem Holzhaufen. Als das Mädchen unwillkürlich die Hand ausstreckte, flatterte sie noch einmal hoch, setzte sich zunächst auf diese Hand und flog dann dem Mädchen auf den Kopf, wo sie ruhig sitzen blieb. Augenblicklich ebbte das Geschrei ab. Die Zuschauer schwiegen verblüfft. "Der Heilige Geist!", erklang eine Frauenstimme aus der Menge. Wie die Jungfrau Maria im Glasfenster der Kirche, der der Heilige Geist als Taube erschien, so saß das Mädchen unbeweglich da. Der Bischof rief geistesgegenwärtig: "Sie ist schuldlos wie Maria!", schritt zu ihr und führte sie bei der Hand vom Scheiterhaufen weg – die Taube hüpfte auf seinen Arm, er nahm ihr die Kapsel ab, entfaltete den Brief und rief: "Ein Zeichen Gottes! Hier steht: Innocentia salvata! Die Unschuld wird gerettet!"
Die Taube, von ihrer Briefkapsel befreit, flog schnurstracks zum Hof des Bischofs in ihren Schlag. Einen Augenblick herrschte Stille, dann brach allgemeiner Jubel aus. Die Leute winkten und klatschten und versuchten, dem Mädchen die Hand zu küssen. Der Schäfer schrie: "Eine Heilige!" und brach unter Zuckungen zusammen, wobei er Schaum vor dem Mund bekam, denn ein Stückchen Seife hatte er zu diesem Zweck immer bei sich, und der Diener zerrte ihn aus dem Weg.
In der Dunkelheit holte der Vater das völlig verstörte Mädchen ab, dankte dem Bischof und versprach, er würde Angela noch diese Nacht zu weit entfernt lebenden Verwandten bringen. Der Bischof befahl dem Diener, ihm Reisegeld zu geben.
Gegen Mitternacht war Ruhe eingekehrt. Der Bischof setzte sich mit einem Becher Wein in seinen Lehnstuhl und las noch einmal den Brief, den die Taube in der Kapsel an ihrem Bein getragen hatte und in dem sein Freund ihm mitteilte, er habe diese letzte Brieftaube versehentlich etwas verspätet abfliegen lassen.
Irmgard Manno-Kortz lebt in Cloppenburg.
Beat Mundwiler
Arrosto di Colombe
Man kehrt gerne an Orte, die man kennt, zurück. Orte mit Erinnerungen. Orte, wo man zum Beispiel die Kindheit verbrachte. Wo man einen Frosch gefunden – oder wo man gut gegessen hatte. Ich lese: Vorgerichte, Hauptgerichte, Nachgerichte und Beilagen. Getränke, Weine. Jedes Kapitel, wenn ich es so nennen kann, ist weiter unterteilt. Hauptgerichte beispielsweise in Fisch, Rind oder Schwein. Die Bezeichnung jedes Gerichts allein ist ein Genuss. Auf der Seite Geflügel, die ich immer überspringe, weil ich denke, dass ich ein Huhn auch selber zubereiten kann, steht: Pigeon et foie gras en chartreuse au jus de truffe. Pigeons aux figues violettes et raisins blanc. Arrosto di Colombe. Usw. Dass die Hauptzutat der kulinarischen Köstlichkeiten eine Taube ist, kann man nicht vermuten. Es braucht Französischkenntnisse. Eine Taube! Haustaube oder Wildtaube. Hoffentlich nicht eine Stadttaube, die irgendwo in der Gosse saß. Man sieht's zwar nicht, wenn sie mit einer feinen goldbraunen Kruste und einem delikaten Sößchen darüber auf dem Teller liegt. Trotzdem! Taubenbrust mit Fettleber auf zartem Kohlblatt, umwickelt von einer Tranche Speck. Trüffelsoße mit Madeira und Butter. Im Ofen gebratene Tauben mit in Weißwein und Armagnac marinierten weißen Trauben mit wenig Zucker und gebratenen reifen Feigen. Darüber eine Soße aus Kümmel und Fenchel mit leicht karamellisiertem Zucker. In Kräuterbutter gebackene Tauben mit Speck und einer Olivensoße. Vielleicht ist es eine Friedens- oder eine Brieftaube. Alt oder jung. Abgesehen davon, dass die einen zäher sind als die anderen, spielt es keine Rolle. Auf dem Teller sind alle Tauben gleich. Was wähle ich? Eine Taube finde ich speziell. Etwas mit Lamm ist auch gut – Epaule d'agneau braisée et ses garnitures: Eine braungebratene Lammschulter in Rotwein aus dem Ofen, garniert mit grünen Bohnen, Artischockenherzen und ein Püree von weißen Bohnen.
Ich wähle – Arrosto di Colombe, mit Petersilie bestreuten Salzkartoffeln und Rosé. Dann warte ich auf die Taube. Columbiformes – eine Ordnung mit mehr als 300 Arten. Schizognathe Frucht- oder Samenfresser; Baum- oder Felsenbewohner; trinken saugend; Schnabelbasis mit Wachshaut; großer zweiteiliger Kropf, der Drüsensekret zur Ernährung der Jungen produziert: sogenannte Kropfmilch; keine Afterfeder, kleine Blinddärme. Das hatte ich einmal gelernt. Ich denke an Turteltäubchen. So hat man uns genannt nach den ersten Küssen! Oder nicht? Warum reden wir eigentlich von der Friedenstaube? Die Arche aus der Bibel kommt mir in den Sinn. Noah ließ die Taube fliegen. Sie kam mit einem Olivenzweig zurück. Der Wasserspiegel senkte sich. Schönes Bild! Was hat es mit Frieden zu tun? Die Brieftauben sind doch eigentlich die erstaunlichsten Tauben, denke ich. Der Ober bringt die Vorspeise. In Gedanken kehre ich zu den Brieftauben zurück. Von denen haben wir es auch gehabt. Ich erinnere mich schlecht. Es war im Hörsaal im zweiten Stock. Das Gebäude steht unter Denkmalschutz. Wir hatten es von den Stadttauben. Sicher. Rote und graue und solche mit oder ohne Streifen. Mit der Serviette wische ich mir den Schnurrbart ab. Ich erinnere mich. Nach der Taubenvorlesung gingen wir in die Stadt. Tauben zählen. Wie viele von welchen gibt es in einem Schwarm, oder irgend so etwas? Ich lege Messer und Gabel in den Teller und freue mich auf die Taube. Wenn sich die Tür zur Küche öffnet, höre ich ein Brutzeln. Nach dem Taubenzählen mussten wir Dinge berechnen. Ich fand es interessant. Doch da war auch etwas mit Brieftauben. Schon die alten Ägypter brauchten sie. Heute redet man besser von Reisetauben oder so. Man macht Wettflüge mit ihnen. Sie gewinnen Geld und Trophäen. Der Ober bringt meine Taube. Sie ist überzogen von einem feinen hellbraunen Krüstchen – leicht glänzend. Ich rieche Kräuter: Petersilie, Estragon und Thymian.
Auch Butter. Da ist ebenfalls eine angebratene Tranche Speck. Hauchdünn – knusprig. Keine Sekunde zu lang gebraten. Ein paar Kartoffeln als Beilage, leicht überbuttert, mit frisch geschnittener Petersilie darüber. Eine Handvoll grüne Bohnen, wie mit dem Metermaß aufgeschichtet daneben. Die schmelzen auf der Zunge. Die Brieftauben lassen mir keine Ruhe. Wo war ich? Bei einer Taubenvorlesung! Friedenstauben kamen nie zur Sprache. Was soll's? Die Soße für die Taube ist in einem extra Schälchen mit Schnabel. Bräunlich, dick, mit kleinen Fettaugen an der Oberfläche und durchgekochten Olivenringen darin, steht der Bratensaft neben dem Teller. Ich schwenke wenig davon über die Taube. Dann tupfe ich ein kleines Stück Kartoffel mit der Gabel in die Soße. Ich will sie schmecken! Erinnerungen schwärmen wieder aus: Mein Großvater hatte Brieftauben auf dem Estrich. Vorsichtig konnte ich in die Nester schauen. Da waren manchmal zwei Junge drin. Brieftauben brachten dem kleinen Mann einen Zusatzverdienst. Nicht das große Geld! Ich lege die Serviette neben den Teller. Der Ober räumt ab. Ich bestelle Kaffee. Das Essen war gut. Ich werde zurückkehren! Sicher! Ich werde mich fragen: Was habe ich doch letztes Mal genommen? Ich werde vielleicht wieder Taube wählen.
Beat Mundwiler lebt in Clarinbridge in Irland.
Lydia Neunhäuserer
Österreich 1993 - 1996
Gäbe es heute noch Brieftauben
gingen die Briefbomben
in die Luft
und die Tauben
würden als Friedenssymbol
schnell abgeschafft.
Lydia Neunhäuserer lebt in Zell an der Pram in Österreich.
Stefan Schenkl
Die Ankunft des Briefträgers
In ihrer Badewanne saß eine Taube und schrubbte sich gerade ihr Federkleid, ein dumpfes Liedchen trällernd, dessen Echo von den Fliesen des Badezimmers zurückgeworfen wurde. Plötzlich sprang die Türe auf, und eine andere Taube stürzte aufgewühlt ins Bad herein...
"Der Briefträger ist im Anmarsch, der Briefträger kommt gerade an!", kreischte die ins Badezimmer getaumelte Taube, und die andere Taube sprang sofort aus ihrer Wanne.
"Was? Jetzt schon? Aber – großartig, dann wird meiner gewinnen!", jubelte die Taube schockiert, während sie nassen Taubenfußes zur Badezimmertüre schlitterte. Aber: keine Zeit mehr, sich jetzt noch abzutrocknen, die Ankunft des Briefträgers musste unverzüglich und sekündlich eingetragen und gemeldet werden...
Die Taube rannte durch den Flur und stürzte zur Hintertüre aus dem Haus hinaus, hastete, pudelnass wie sie war, über den Hof und gelangte zum Stall. Dort nahm sie den Briefträger zu sich und ließ ihn in den Stall hineingehen. Blitzschnell schaute die Taube auf die dortige Uhr, nahm dem Briefträger seinen Brief ab, notierte die Ankunftszeit auf einem Formular und setzte den Briefträger wieder in den Käfig. Dann meldete die Taube die Ankunftszeit noch dem Schiedsgericht des Briefträgerverbandes, war überglücklich über ihren Erfolg beim Züchten von Briefträgern, verließ den Menschenschlag wieder und watschelte zufriedenen Schrittes ins Haus zurück, wo sie ihr Gefieder endlich abtrocknen konnte...
Stefan Schenkl lebt in Würzburg.
Itta Schmah
Brieftauben
Ich besaß schon Brieftauben, da konnte ich Briefe noch gar nicht schreiben. Begonnen hatte alles damit, dass mein Bruder Henning sich sehr plötzlich für den Chorgesang zu interessieren begann, was ein wöchentliches Training für ihn bedeutete. Nach nur einer Woche Chorgesang sagte er zu mir: "Ich vererbe sie dir, alle acht!" Ich verstand nicht, was er meinte. Und dann sagte er noch: "Kümmere dich um die Brieftauben, Sören."
Ich kümmerte mich um sie, und mein Bruder kümmerte sich um die Nachbarstochter, die schon einige Zeit Chorsängerin war. Oft sah ich nun beide auf dem Weg zur Musikschule die Abkürzung über das Feld nehmen. Schnell waren sie meinen Augen entschwunden.
Aber ich hatte jetzt die Tauben. Ich liebte die Tauben und die Tauben liebten mich, so glaubte ich jedenfalls. Den mühsamen Weg über den Dachboden zum Taubenschlag machte ich drei Mal in der Woche, die Hosentaschen voll mit Getreidekörnern. Die Tauben sahen mir entgegen, gurrten verhalten und ließen die Flügel hängen. Dann und wann blinkten sie mit dem einen oder anderen Auge, so, als würde blitzschnell die Klappe eines blechernen Brotbehälters auf- und zugeklappt. Ich konnte die Zeichen nicht deuten.
"Das sind doch Brieftauben", sagte mein Bruder, "Briefe brauchen die", als ich ihm mein Leid von den flügelmatten Tauben klagte. "Gut", sagte ich, "dann muss ich jetzt rasch zu Briefen kommen." Und bevor ich noch meinen Bruder daran erinnern konnte, dass ich noch keine Briefe schreiben könne, hatte er sich schon auf den Weg gemacht in Richtung Nachbarstochter. Dabei war ihm ein Papier aus der Tasche gefallen. Ich hob es auf, reckte noch meinen Arm, um ihn rufend auf sein Eigentum aufmerksam zu machen, da war er schon um die Ecke verschwunden.
Und so kam es dann zum ersten Auftrag für meine Brieftauben, denn es war ein Briefchen, das meinem Bruder Henning aus der Tasche gerutscht war. Was für ein Glücksfall.
Am selben Tag noch rollte ich das Briefchen in ein kleines Behältnis und befestigte es am Fuße der mattesten Brieftaube. Gab ihr noch einen Schubs, dass sie fliegen sollte, und endlich war sie verschwunden.
Noch am selben Abend, nachdem ich zwei Backpfeifen ohne Vorwarnung von meinem Bruder bekam, und ohne dass ich wusste, wofür ich sie verdient hätte, erfuhr ich, dass die Brieftaube den Brief direkt vor unserer Haustür abgelegt hatte. 'Das war ein kurzer Postweg, aber gut, sie lernt ja noch', dachte ich damals. Welche Bewandtnis es sonst mit den Backpfeifen auf sich hatte, verstand ich nicht ganz. In dem Briefchen ging es um irgendwelche Verabredungen mit der Chorsängerin, bei denen wohl nicht gesungen werden sollte. Jedenfalls strichen die Eltern meinem Bruder den Gesang und er verlangte seine Tauben wieder zurück. Aber ich hatte schon gelernt, dass man nur Geduld haben muss, um manches zu erreichen. Und so war es auch diesmal. Es war kaum ein Jahr vergangen, da tauchte wieder eine Nachbarstochter auf, und diesmal sollten sie gemeinsam tanzen und sich gut benehmen lernen, einmal die Woche.
Und wieder erbte ich die Tauben. Es waren nur noch fünf. Aber nun konnte ich auch schon schreiben und ich begann zu überlegen, was für eine Nachricht ich meinen Brieftauben anvertrauen konnte und an wen sie gehen sollte. – Ja, das war die Frage, an wen? Die schmerzlichen Backenstreiche hatten mich schon gelehrt, dass Tauben nie irren; denn es war der richtige Platz, den die flügelmatte Brieftaube damals für den Brief meines Bruders gewählt hatte. Jetzt wusste ich Bescheid, sie fliegen immer nach Hause. Also nahm ich mein Fahrrad und fuhr mit den Tauben im Korb, so oft ich konnte, weit weg. Manchmal bis zu der Anhöhe, von der unser Haus nicht einmal mehr zu sehen war. Von dort machten sie sich auf den Weg mit ihren Nachrichten. Die waren alle an mich gerichtet. Ich brauchte sie nicht mehr zu lesen.
Aber höllisch aufpassen musste ich, dass mein Bruder Henning keines der Briefchen zu sehen bekam, in denen ich immer von meinen klugen, meinen schnellen, nimmermüden Brieftauben geschrieben hatte. Aber mein Bruder bestand darauf, dass es seine Brieftauben wären und ich keine Ahnung von der Sehnsucht nach Weite dieser Tauben hätte, die schnell wie ein D-Zug seien und hunderte von Kilometern fliegen könnten. – Das sah für mich nicht gut aus. Ich fühlte mich, nach der großen Rede meines Bruders, nun selbst flügellahm. Ich musste irgendeine Entscheidung herbeiführen. – Meine oder seine Tauben? – Da erinnerte ich mich, dass meine Großmutter bei schwierigen Entscheidungen oft abwartete und sagte: Vielleicht antwortet Gott.
Da machte ich uns fertig zur Reise auf die Anhöhe. Nur eine der Tauben bekam ein Briefchen, alle anderen saßen mit im Korb, das letzte Stück schob ich das Fahrrad.
Meine Hand war zittrig, als ich den Korb öffnete. An diesem Tag hatten es alle Brieftauben eilig, aufzusteigen. Besonders eine schraubte sich steil in das tiefe Himmelsblau. Am späten Abend hörte ich sie dann gurren in ihrem Verschlag. Es klang zufrieden. Ich war in Gedanken: ob es gut für mich und meine Brieftauben ausgegangen war? Erst am nächsten Morgen bemerkte ich, dass eine der Tauben fehlte. Es war die mit der Botschaft. Ich wartete Tage, bald war ein Monat vorbei. Hatte sie eine Antwort bekommen auf die Frage: Meine oder seine Tauben? Die Zeit verging. – Fast nicht mehr erwartet, war dann ein Brief für mich da, wieder vor unserer Tür, diesmal an mich. In großer, schnörkeliger, fremder Handschrift stand geschrieben: DEINE SIND'S!
Itta Schmah-Andresen lebt in Berlin.
Rosemai M. Schmidt
Durch Zeit und Raum
"Es ist einfach sonderbar, Gerrit", sagte Joana Closey, als sie am Abend aus ihrem Seidenkostüm schlüpfte.
"Hm?", murmelte ihr Mann. Er kämpfte eben mit seinem Sockenhalter, der sich im Hosensaum verfangen hatte.
"Ich sagte: Es ist schon sonderbar", wiederholte Joana. Sie zog das Nachthemd über und schlüpfte unter die Decke. Von dort beobachtete sie amüsiert Gerrits Laokoon-Kampf.
"Was meinst du damit?" Gerrit schaute sie fragend an. 'Da hatten wir heute unsere goldene Hochzeit', dachte sie gerührt, '50 Jahre seit 1947! Einige Speckpölsterchen hat er mehr und viele Haare weniger. Aber ich liebe ihn womöglich noch mehr als damals.'
"Nun", fuhr Joana fort, "dass dein Heiratsantrag damals nicht ankam, ist doch sonderbar. Ich hielt es für ein schlechtes Omen, aber es hat sich nicht erfüllt. 50 Jahre! Denk mal!"
"Na ja", murmelte Gerrit verlegen, "es war ja auch nicht gerade eine Glanzidee, den Antrag einer Brieftaube ans Bein zu hängen." Er hatte den Kampf gegen den Sockenhalter endlich gewonnen und kroch neben Joana ins Bett.
"Ach", Joana lachte, "aber es war so wunderbar romantisch!"
Gerrit grinste: "Nun, ich hab' dich ja trotzdem bekommen. Gott sei Dank."
"Gerrit?"
"Hm?"
"Wo sie wohl hingekommen ist?"
"Wer denn, Schatz?"
"Na, die Taube."
"Oh", lächelte Gerrit geheimnisvoll, "sie fliegt sicher noch durch Raum und Zeit und sucht nach dir. Das würde ich auch, wenn ich dich damals nicht bekommen hätte. Ich habe dich schon immer gesucht. Alle meine Leben lang."
"Oh, Gerrit! Das ist die schönste Liebeserklärung, die du je gemacht hast ... durch Raum und Zeit ... auf was für Ideen du kommst!"
Gerrit schmunzelte und wandte sich ihr mit dem altvertrauten Glitzern in den Augen zu.
"Au! Was war denn das?", rief er verdutzt. Er wischte sich mit den Fingern übers Auge und roch daran.
"Was ist denn?", rief Joana ängstlich.
"Riech mal", krächzte Gerrit entgeistert und hielt ihr seine Hand unter die Nase.
"Igitt!", kreischte Joana, "Das ist Vogelscheiße! Gerrit, wo kommt die denn her...? Iiiihhhh!" Joana starrte entsetzt auf einen zweiten Klacks Vogelkot, der zwischen ihr und Gerrit aufs Kopfkissen klatschte.
Beide saßen wie erstarrt.
"Was ... was", Joana verstummte wieder. Es sträubten sich ihr die Haare, und sie hatte den Impuls, aus dem Bett zu springen, aber ihre Glieder gehorchten ihr nicht.
Der Laut, mit dem die Taube gegen das Fenster knallte, klang wie ein Kanonenschuss. Es war nicht der erste Vogel, der sich das Genick an einem ihrer Fenster gebrochen hatte, aber der erste, der von innen gegen die Scheibe geflogen war. Gerrit schoss aus dem Bett und brachte die Taube zurück. Das Köpfchen baumelte lose zwischen seinen gespreizten Fingern, und Joana starrte auf das wunderschön schillernde Gefieder.
"Joana", keuchte er, "Joana! Das ist sie!! Sie ist unverwechselbar!"
"Wer?", wisperte sie. Die Stimme wollte ihr kaum gehorchen.
Gerrit schob das dichte Gefieder des seltsam pludrigen Geschöpfes beiseite und öffnete die winzige Kapsel an dem dünnen Vogelbeinchen. Feierlich legte er ein kleines, gerolltes Papierchen vor Joana auf die Bettdecke.
"Da", sagte er, als sei dies das Normalste auf der Welt. Aber seine zitternden Hände verrieten ihn.
Joana öffnete den Zettel und las halblaut mit bebenden Lippen, während Gerrit abwesend das Taubengefieder streichelte:
Joana!
Wenn du willst,
trage ich dich auf meinen Händen
durch die Ewigkeiten.
Meine Liebe überdauert
Zeit und Raum.
Sag Ja!
Gerrit
"Zeit und Raum", flüsterte Joana, "Raum und Zeit. Oh, Gerrit!" Dann hob sie den Kopf und sagte laut und deutlich: "Ja!"
In diesem Augenblick verschwand die Taube mit einem sanften: Plopp!
Im Jahr 1948 fiel einem Rad fahrenden Postboten eine tote Brieftaube auf den Kopf und verursachte den ersten Sturz des Mannes vom Rad in zwanzig Dienstjahren.
"Eine Brieftaube", staunte er, "was für ein merkwürdiges Zusammentreffen." Und der Mann suchte nach der Kapsel am Bein des Tieres. Aber die Kapsel – war leer.
Rosemai M. Schmidt lebt in Tübingen.
Regina J. Schwenke
Eine wahre Taubengeschichte oder: Wie die geliebten Tauben Onkel Willi überleben ließen!
Wir lebten als Kinder in Berlin-Neukölln. Mein Onkel Willi und seine Frau Martha hatten zwei Söhne, Rudi und Herbert, ungefähr in unserem Alter, und bei Besuchen spielten wir sehr oft zusammen. Sie wohnten in einer Mietwohnung in der Neuköllner Silbersteinstraße.
Zum Kaffeetrinken mussten wir unseren Onkel Willi jedes Mal vom Dachboden des Hauses holen. Der Onkel hatte über den ganzen Dachboden verteilt seine Käfige und Bauer für seine Tauben. An zwei kleinen Dachfenstern hatte er Ausflugsluken eingebaut. An den schrägen Wänden hingen viele Urkunden, und auf einem Regal standen etliche Pokale von Flugwettbewerben. Seit seiner Kindheit liebte er diesen Sport, die Schönheit der Tiere, das wunderbare Gefieder, ihre Ausdauer bei den Flugwettbewerben und die Anspannung, bis seine "Kinder" wieder zu Hause waren. Um jede verlorene oder tote Taube trauerte er und war tagelang nicht zu gebrauchen. Immer wieder suchte er den Himmel ab, ob sie vielleicht doch noch einfliegen würde. Er hatte ein Fernglas nahe den Luken stehen und griff ständig danach, wenn seine Lieblinge unterwegs waren.
Kaum war das Kaffeetrinken vorbei, drängt es Onkel Willi schon wieder zu seinen Tauben.
Dann kam der Zweite Weltkrieg, und Onkel Willi wurde eingezogen. Von seiner Frau Martha und den Söhnen verabschiedete er sich recht fröhlich, denn er wollte Deutschland verteidigen. Auf dem Dachboden fanden wir ihn weinend vor. Von jeder einzelnen Taube verabschiedete er sich, streichelte die Tiere, die natürlich alle einen Namen hatten, flüsterte ihnen ein Versprechen ins Ohr, dass er bald wiederkäme. Er hatte seitenlange Listen angefertigt, was seine Frau und seine Söhne während seiner sicherlich kurzen "Abwesenheit" zu tun hätten.
Der Krieg dauerte, wir hörten im Anfang hin und wieder von ihm per Postkarten und Briefen: die einzige Sorge galt seinen Tauben. Er schickte sogar von seinen verschiedenen Einsatzorten besonderes Futter, das er irgendwo von anderen Taubenzüchterfreunden aufgetrieben hatte. Von all seinen Tauben hatte er Bilder dabei.
Der Krieg war vorüber, nach und nach kehrten die Kriegsteilnehmer und Gefangenen nach Hause zurück. Onkel Willi kam nicht. Wir warteten, und Tante Martha und ihre Söhne versuchten, über das Rote Kreuz Auskunft zu erhalten. Aber monatelang, ja jahrelang nichts. Die beiden Cousins und wir versorgten die Tauben, die Truppe der Lüfte wurde immer größer. Immer wieder fanden wir in den Gelegen Eier, aus denen nach 17 bis 18 Tagen kleine neue Tauben schlüpften. Immer wieder sagten wir uns, Onkel Willi wird bald kommen und wir können dann endlich diese Arbeit an ihn abgeben. Aber Onkel kam nicht.
Dann endlich die erlösende Nachricht des Roten Kreuzes, er wäre in einem Arbeitslager in Sibirien und man hoffe, dass er Weihnachten 1948 wieder bei uns wäre. Alle fieberten dem Weihnachtsfest entgegen, und tatsächlich kam er mit einem Sondertransport nach wochenlanger Fahrt im Lager Friedland an, und nach einigen Tagen ging es weiter nach Berlin.
Wir mussten lange suchen, bis wir einen Mann fanden, der unserem Onkel von der Größe her ähnelte. Abgemagert, ohne Haare und mit einem ausdruckslosen Gesicht stand er hilflos auf dem Bahnhof. Tante Martha erkannte ihn als erste und umarmte ihn weinend. Er ließ das teilnahmslos über sich ergehen und begrüßte mit einer schlaffen Umarmung seine beiden groß gewordenen Söhne. Uns anderen nickte er nur zu.
Wir fuhren in die Silbersteinstraße. Bis dorthin hatte Onkel Willi noch kein Wort gesprochen. Angekommen, sollte erst einmal ein Begrüßungskaffee getrunken werden. Aber plötzlich war Onkel Willi verschwunden: mit müden Schritten war er ins Dachgeschoss gestiegen. Er ging von Käfig zu Käfig, nahm die eine oder andere Taube lange in der Hand und streichelte und liebkoste sie. Diese Geste hatte er nicht einmal für seine Söhne.
Wir verabschiedeten uns bald und wollten, dass er sich erst einmal bei seiner Familie eingewöhnen konnte. Tante Martha hatte nach der Flucht aus Westpreußen ihre alte Mutter bei sich aufgenommen. Selbst diese alte Dame ignorierte er oder nahm sie gar nicht wahr.
Einige Tage später besuchte mein Vater Max seine Schwester Martha und wollte wissen, wie es geht. Weinend berichtete sie, dass ihr Mann bis heute kein einziges Wort gesprochen habe. Er schlafe völlig unruhig, stehe nachts auf und gehe auf den Dachboden. Sein Tagesablauf wäre nicht einzuordnen. Das Mittag- und das Abendessen packe er sich auf ein Tablett und verschwände bei seinen Tauben.
Tante Martha bestellte einen Arzt ins Haus, der seine Untersuchung bzw. sein einseitiges Gespräch ebenfalls auf dem Dachboden führte. Der Arzt berichtete unserer Tante, dass ihr Mann ein schweres Trauma erlitten habe, und man müsse ihm Zeit lassen.
Die Zeit verrann. Der Sommer 1949 war ins Land gezogen, und auf dem Dachboden herrschten hohe Temperaturen. Onkel Willi saß inmitten seiner Tauben. Wir wussten nicht, ob er eventuell mit ihnen sprach.
Dann fand seine Frau ihn an einem schwül-heißen Sommerabend tot auf dem Boden in einem Stuhl sitzend. Auf dem kleinen Tisch vor ihm lag ein langer Brief.
Er bedankte sich bei der gesamten Familie, dass sie ihm das Liebste, was er hatte, so gepflegt hatte. Er habe sich in der Gefangenschaft im Arbeitslager nur mit dem Gedanken am Leben gehalten, dass er seinen Tauben versprochen habe, wieder zu ihnen nach Hause zu kommen.
Seinen Tauben gegenüber hatte er Wort gehalten, aber zu seiner Familie war er nicht zurückgekehrt.
Regina J. Schwenke lebt in Berlin. Erzählt hat sie hier die wahre Geschichte ihres Onkels Willi Schön.
Tobias Sommer
Friedenstauben
(mit Kurzmitteilungen bestücken)
vor Jahren habe ich eine Stalltür gebaut
ein Schloss aus maroden Beständen
die engsten Maschen und Vorrichtungen
mit höchsten Sicherheitsstufen gefunden
und die Schrauben der Beschläge überdreht
es war ein Antritt von allem was wir hatten
wir pflegten unsere Zuversicht auf Besserung
retteten sie vor Panthersprüngen verfütterten
Reiskörner und ernährten uns einseitig
viele nannten es Glück aber Überleben
war nie unser Ziel und am Vorabend
habe ich die Futterreste gegen Waffen getauscht
die Widerstandskräfte verspielt und den Schlüssel verloren
den ich nun nach den Jahren brauche
sie sollen fliegen
Tobias Sommer lebt in Bad Segeberg.
Inken Weiand
Sally
Sally ist Jupps schönste Brieftaube, seine große Hoffnung. Sie ist noch keine erfahrene Alttaube, sondern fliegt erst im Herbst. Aber sie fliegt jedes Mal in die Ränge. Jupp setzt große Hoffnungen auf Sally.
Der letzte Flug des Jahres steht an. Jupp betrachtet Sally mit Sorge. Er hat sie mit bestem Fettfutter gefüttert. Trotzdem hat sie nicht genug zugenommen. Ob er sie fliegen lassen soll? So ein Flug braucht viel Energie. Jupp überlegt. Für ihn sind die Tauben mehr als nur ein Hobby, ein Familienersatz. Er will seine Lieblingstaube nicht aufs Spiel setzen. Andererseits ist es die letzte Gelegenheit in diesem Jahr. Jupp zögert lange, doch als schließlich die Tauben zum Auflass transportiert werden, ist Sally dabei.
Wer aber nicht heimfindet, ist Sally. Die anderen Tauben sind schon lange angekommen, holen sich ihre verdiente Belohnung. Doch wer fehlt, ist Sally.
Vielleicht macht sie nur irgendwo Rast. Hockt da, trinkt etwas, orientiert sich neu und fliegt dann weiter. Dann wird sie sicher bald kommen.
Vielleicht aber hat sie sich verirrt. Oder ein Greifvogel hat sie sich geholt. Oh, wie ist Jupp beunruhigt!
Dann das schlechte Gewissen. Hat er nicht noch überlegt, ob er seine Sally, seine schöne, talentierte Sally, fliegen lassen soll? Wenn Sally nicht heimfindet, ist er schuld.
Da klingelt das Telefon. Eine Frauenstimme meldet sich. "Sally ist mein Name", erklärt sie. "Sally Klinger."
Jupp lauscht verwirrt in den Hörer. Einen Moment meint er, seine Taube zu hören. Doch es ist eine Frau, mit der er spricht. Sie hat auf dem Balkon eine Brieftaube gefunden. Jupp bleibt die Luft weg. Wenn es nun seine Sally wäre! In den Händen einer Frau! Die sich natürlich nicht mit Tauben auskennt – wenn sie auch Sally heißt!
Sally, die Frau, berichtet, sie habe die Beringung der Taube gesehen, darauf seine Telefonnummer, die Taube sei ganz erschöpft, sie habe ihr Wasser gegeben, aber sie fliege einfach nicht weiter, und was sie jetzt tun solle.
Nun war es natürlich richtig, der Taube Wasser anzubieten. Aber wenn sie nicht weiterfliegt? "Geben Sie ihr Haferflocken", schreit Jupp. Dann fällt ihm auf, wie unhöflich er ist. "Entschuldigen Sie", knurrt er.
Aber wenn Sally verletzt ist? Oder entkräftet? "Wo sind Sie?", fragt Jupp. "Ich komme meine Sally holen!"
"Ich bitte Sie!", sagt die Frau.
Jupp fällt ein, dass die Frau ja auch Sally heißt. "Die Taube heißt auch Sally", erklärt er verwirrt.
Eine Weile herrscht Schweigen in der Leitung. Dann hört Jupp die Frau lachen. Erleichtert lacht er mit.
"Aber im Ernst", meint er schließlich. "Sally ist meine Lieblingstaube. Ich komme sie holen, wenn es Ihnen Recht ist."
"Ja, klar", sagt die Frau, die wie die Taube heißt. Und sie nennt ihm ihre Adresse.
Jupp fällt noch etwas ein. "Moment", sagt er. "Sie müssen verhindern, dass Sally jetzt doch losfliegt."
"Aber wie?", fragt die Frau und lacht schon wieder. Fast klingt es wie das Gurren einer Taube.
"Stülpen Sie ihr einen Wäschekorb über", rät Jupp.
"Ich werde es versuchen", verspricht die Frau Sally.
Jupp setzt sich ins Auto. Er fährt los. Tauben sind seine Leidenschaft. Tauben sind schön und freundlich. Tauben zeigen einem ihre Zuneigung, wenn auch natürlich nicht so, wie es ein Mensch tut...
Kurz darauf steht Jupp vor der Tür, tritt unruhig von einem Bein auf das andere.
Eine Frau öffnet, reicht ihm die Hand, lacht und sagt: "Hallo, ich bin Sally." Und ihr Lachen klingt fast wie das Gurren von Sally, der Taube.
Nun muss Jupp nach Sally sehen, nach seiner Sally-Taube. Sie sitzt auf dem Balkon unter einem Wäschekorb, vor sich einen Teller mit Haferflocken und ein Schälchen Wasser. Erschöpft ist sie, aber wohlauf.
Und dann sitzen sie am kleinen Tisch auf dem Balkon, Sally, die Frau, und Jupp, trinken Kaffee und reden, und Jupp kann den Blick kaum von Sally wenden, wie sie da so sitzt und lacht wie eine Taube und sich so interessiert für alles, was mit Brieftauben zusammenhängt. Zwei Stunden später ist Jupp wieder unterwegs, mit der zufrieden gurrenden Taube Sally im Transportbehälter. Und Jupp summt eine kleine Melodie und freut sich auf den nächsten Sonntag. Am nächsten Sonntag wird Sally kommen; nicht Sally, die Taube, nein, sondern die andere Sally, und den Taubenschlag ansehen.
Die Taube gurrt leise.
"Du bist schon eine", lacht Jupp. "Eine ganz Raffinierte."
Und er lacht und freut sich auf Sonntag.
Inken Weiand lebt in Bad Münstereifel.
Wolfgang Allinger
Diese Geschichte wurde bereits in der WORTSCHAU veröffentlicht und stand – kurz – auch schon auf unserer Homepage. Da sie mitverantwortlich dafür ist, dass wir diesen Wettbewerb überhaupt ausgelobt haben, hat sie hier jetzt auch wieder ihren Platz. Also viel Spaß mit Wolfgang Allingers ...
Taubenvatter Jupp
"Jetzt habe ich schon wieder eine halbe Stunde auf Dich gewartet", murmelte Jupp mehr zu sich als zu seinem Superweibchen Klara, "Langsam wirst Du langsam mein Schatz". Er nahm einen letzten Schluck aus der Flasche Königs Pilsner, der dritten seit einer halben Stunde. Seine Stimme begann zu säuseln: "Klara mein Schatz, endlich...!" Klara, seine Klara, schwebte aus dem Grau des verregneten Tages dem Anflugbrett zu, das sich vor dem Einflugloch des Taubenschlags befand. Mit zwei, drei kräftigen Flügelschlägen gegen die Flugrichtung schien sie ein letztes Mal Maß zu nehmen und ließ ihren stahlblauen Rumpf mit den schwarz-grünlich schimmernden Halsfedern auf die gespreizten Krallen sinken. Es war Sonntag, 10. Juli 2005, 18.09 Uhr, Klara war gelandet.
Sie drehte ihren Kopf fast liebevoll in Jupps Richtung und nickte ihm zu. Jupp nahm sein Handy und rief die Ankunftskontrollstelle an: "0185-03-231 angekommen, 18 Uhr 10." Er legte auf. Heute früh waren 83 Tauben seines Zuchtvereins "KT 85 Rheinhausen" zusammen mit 4417 Tauben anderer Vereine um 6.45 Uhr in Tartas, einer Ortschaft zwischen Bordeaux und Bayonne, gestartet, genau 902 Kilometer entfernt. Wie ausgehungert begann Klara Körner zu picken und schien sich schon auf ihre Belohnung zu freuen: Das Turtel-Stündchen mit Hector, ihrem Mann. Immer nach vollbrachter Heimkehr durften die beiden sich sehen. Jupp nannte das "Tuning".
Hector war ebenfalls eine Renntaube, doch bei weitem nicht so gut wie Klara, die abgeklärte Draufgängerin. Bis zur letzten Saison war Klara die schnellste Taube aller Zeiten gewesen. Von Kapstadt bis Duisburg in 28 Stunden und 3 Minuten. Eine Leistung, die nie eine Taube zuvor vollbracht hatte. Ob es am Südwind damals lag oder an der Gerissenheit seiner Klara, die ihm wieder und wieder Höchstleistungen vorgeführt hatte, Jupp würde es nie ergründen. Eines wusste er jedoch: durch dick und dünn, durch alle Wetter und Gefahren, ob Nebel, Regen, Schnee, seine Klara fand immer wieder nach Hause in ihren Taubenschlag, den Jupp für sie, Hector und ihre Vorgänger gebaut hatte.
Jupp nahm die letzte Flasche Bier aus dem gekühlten Sixpack, sah auf die fast stumpfe Fläche des Spiegels, den er gleich nach dem Bau der Holzlaube mit Taubenschlag neben der Eingangstür angebracht hatte, und prostete sich zu.
Zehn Jahre war das her oder fünfzehn, als Jupp Mechthild, seine Frau, kennengelernt hatte, die Tochter des Taubenvereinsvorsitzenden Johannes Umierski und acht Jahre jünger als er. Damals hatte er die Laube gebaut, auf der Freifläche neben dem Rheinhausener Stahlwerk, wie viele andere, die nach der Arbeit Entspannung im Gemüse brauchten. "Wenn du zum Rhein willst, musst du nur zweimal spucken, diese Richtung", hatte ihm sein Nachbar, Walter Wolkenkötter, damals gesagt und mit seinem Kopf Richtung Autobahnbrücke genickt. Dann hatte Jupp das Grundstück für 1000 Mark gekauft.
Die Laube stand schnell. Mechthild, seine Geschwister und die Eltern, alle hatten mitgeholfen, sogar der Umierski. Seit seiner Heirat mit Mechthild erschien Jupp das Leben wie ein Bilderbuch. Sie bezogen die von Johannes Umierski finanzierte Eigentumswohnung in der Stresemannstraße, erstes Geschoss, ganz in der Nähe, mit Balkon vor dem Schlafzimmer. Weil er am liebsten, so lange er denken konnte, den Vögeln beim Landen, Picken, Putzen und Abfliegen zusah, füllte er Körner in die Blumenkästen auf der Brüstung. Zuerst kamen die Spatzen, dann die Tauben. Dann baute Jupp den Taubenschlag oben auf das Gartenhäuschen. Mechthild ließ es zu, seine Mechthild. Sie arbeitete als Gelegenheitsprostituierte überwiegend zu Hause und fand die Geräusche vom Balkon "einfach anregend", besonders, wenn einer der hohen Herren aus der zweiten Etage bei Thyssen auf ein Schwätzchen vorbeikam.
Er, Jupp, war Kranführer im Stahlwerk drüben, bis die Tore geschlossen wurden, fast zwanzig Jahre lang. Bald konnten sie die Eigentumswohnung Vater Johannes abkaufen. Jupp hatte sich in dieser Zeit die teuren Tauben gekauft und deswegen eine Schlafcouch in die Laube gestellt. Darüber das von Wand zu Wand reichende Regal mit mittlerweile 48 Pokalen für den ersten Platz beim Taubencorso. "Jedes Lebensjahr einen", so Jupp, wenn er sich zum Putzen auf das Bett stellte. Das war einmal im Monat.
Er übernachtete immer häufiger im Gartenhaus, aus Furcht, jemand könne ihm das Wertvollste, seine Tauben, stehlen wollen. Als er arbeitslos wurde, zog er mit Handy und Radiorecorder aufs Gartengrundstück und rief an, bevor er sich auf den Weg nach Hause machte.
"Ist das Leben nicht schön?" Das war immer Jupps erster Satz, wenn Walter Wolkenkötter auf ein Fläschchen Bier in der Abendsonne vorbeikam, "alle jammern und uns geht es gut".
"Tja", war stets Wolkenkötters Antwort, bevor er die Flasche an die Lippen setzte.
Mechthild schien die Ehe zu gefallen, jedenfalls kam sie immer sonntagvormittags vor dem Kirchgang mit den neuesten Nachrichten aus der Straße, ein paar Flaschen Bier, warmen Brötchen und etwas Geld vorbei, wie heute morgen.
Jetzt aber lag Glück auf Jupps Gesicht, graublondes, schütteres Glück. Unter ihm knarzte die am Vormittag gefegte Holzdiele. Er stieg die Leiter zur Klappe in den Schlag aus Hasendraht hinauf, öffnete mit nur einem Handgriff den Tuning Salon für Klara und wartete ab, was geschehen würde. Klaras Nadelkopfaugen schienen Jupp zu durchbohren, bevor sie die Schwelle zum Salon überschritt. Jupp stieg zurück zum letzten Sixpack. Was jetzt passieren sollte, das wusste er nur zu gut. Hector würde sich freuen und der Wolkenkötter käme sicher auch gleich. Jupp setzte sich und öffnete schon mal zwei Flaschen.
Die Abendsonne schimmerte durch die Wolken.
Wolfgang Allinger lebt in Herxheim-Hayna.
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Und nun viel Spaß mit den Brieftaubengeschichten!