Brieftaubengeschichten 2010
Vorwort
Wir dachten, die Beteiligung vom letzten Jahr wäre nicht mehr zu toppen: Weit gefehlt! 82 Autorinnen und Autoren haben sich an unserem diesjährigen Brieftaubengeschichten-Wettbewerb beteiligt. Aus Deutschland, Frankreich, Österreich und der Schweiz kamen die Beiträge: Prosatexte und Gedichte von 74 Erwachsenen, sechs Jugendlichen und zwei Kindern. Dafür an alle noch einmal ganz herzlichen Dank!
Wieder ist uns die Entscheidung darüber, welche Texte hier veröffentlicht werden, nicht leicht gefallen. Erneut war uns wichtig, dass die Einsendungen von Brieftauben erzählen, also Tauben, die entweder mit einer ihnen anvertrauten Botschaft oder im Rahmen eines Wettfluges nach Hause fliegen.
Nun war das mit dem Nachhause-Fliegen wieder so eine Sache ... Viele Autorinnen und Autoren haben offenbar unser Vorwort zu den Brieftaubengeschichten 2009 nicht gelesen, denn es wurden wieder munter Tauben zuerst an ihnen unbekannte Orte und anschließend von dort wieder zurück geschickt. Auch waren diese Nachrichten-Überbringer wieder überdurchschnittlich oft schneeweiß. – Nicht so schlimm: Wenn solche Geschichten gut geschrieben waren und/oder von Kindern oder Jugendlichen stammten, haben wir ein Auge zugedrückt.
Noch eines (das wissen allerdings nur die Experten): Brieftauben durchqueren keine Wälder. Sie haben Angst vor Greifvögeln. Vor allem der Habicht ist ein geschickter Heckenjäger; im dichten Baumbestand hätten die Tauben gegen ihn schlechte Karten. Wenn Brieftauben reisen, fliegen sie deshalb in großer Höhe, um zu ihrem Ziel zu gelangen, und sind bei gutem Wetter nur als schnell ziehende, glitzernde Punkte am Himmel zu erkennen. Liegt nun der Heimatschlag der Tauben in einem dichten Waldgebiet, stürzen sie sich erst direkt über ihrem Ziel vom Himmel herab und verschwinden dann blitzschnell im sicheren Zuhause. Auch fliegen sie nicht nachts (Ausnahmen bestätigen sicher die Regel).
Aber nun viel Spaß mit den neuen Brieftaubengeschichten!
Joel Bedetti
Gerda, die dicke Brieftaube
Der Himmel über Lothringen leuchtete königsblau, und zwei Flieger trafen sich zum Duell.
Unten auf der Erde brach der sonnige 17. Juni 1916 an. Adolf Schicklgruber blinzelte, während er sich über den Schnauzer strich, dann verfluchte er die schlafende Ratte am Fuße seines Strohsacks. Er stand auf und wischte das Stroh von der Uniform. Der Rest des Königlich-Bayerischen Reserve-Infanterie-Regiments 16 streckte alle Viere von sich und verfolgte mit verhaltenem Interesse den Luftkampf.
Außer Oberst Bach. Er war bereits um Fünfuhrfuffzig aufgestanden, hatte zwölf Dutzend Kniebeugen, den Ausritt und zur geistigen Erbauung zehn Seiten Trivialliteratur hinter sich. Und hatte natürlich die Brieftauben gefüttert.
Jetzt befahl Oberst Bach etwas.
"DER MELDEGÄNGER SCHICKLGRUBER ZUM HERRN OBERSTEN, ABER HURTIG!", brüllte der Stabshauptmann in Richtung Mannschaftslager.
"Meldegänger Schicklgruber antraben", rief ein Leutnant in Richtung Baracke D.
"Schiiicki, Aaabmoarsch", grunzte ein Unteroffizier beim Rasieren. Der Meldegänger Adolf Schicklgruber rückte sich die Uniform zurecht, ehe er zum Regimentskommando stürmte.
Oberst Bach war mindestens einen Kopf größer als Schicklgruber. Er steckte ihm einen beigen Umschlag in die Brusttasche. "Meldegänger Schicklgruber, wichtige Nachricht heute. Inspektion ist unterwegs. Im Graben sollen sie Frühlingsputz machen."
Darauf Oberst Bach zur runzligen Ordonnanz: "Instruieren Sie Gerda". Die Ordonnanz verschwand und kam mit einer fettleibigen Taube zurück. Man band ihr einen identischen beigen Umschlag um. Bach streichelte der Brieftaube Gerda zärtlich den Kopf und warf ihr Sonnenblumenkerne hin, die er aus der Hosentasche geklaubt hatte.
Darauf der Oberst, halb zu Schicklgruber, halb zur Ordonnanz: "Mal sehen, wer diesmal schneller ist: Die dicke Gerda oder mein österreichischer Meldegänger."
Doch da hatte sich Schicklgruber schon abgemeldet und stob unter dem Gejohle der Kameraden in Richtung Gräben davon.
Gerda fraß zu Ende, dann hob sie schwerfällig ab.
Der Meldegänger Schicklgruber flitzte an den zerschossenen Höfen vorbei und sprang über die Granatenkrater wie ein junges Reh. Seine Lunge brannte, aber er hielt sein Tempo. Einmal mehr zahlte sich aus, dass er seine Tabakration gegen Schlinks Kunsthonigration eintauschte.
"Adolf", keuchte er, "heute zeigst du es dem Miststück."
Unnötig zu erwähnen, dass in dieser Sekunde die Brieftaube Gerda über Schicklgrubers Kopf hinwegsegelte. Sie strahlte eine derartige Bedächtigkeit aus, dass Schicklgruber nicht anders konnte als einen Stein nach ihr zu werfen.
Er traf nicht, kümmerte sich aber nicht weiter darum, weil fünfzig Meter neben ihm die erste Granate einschlug. Vorne donnerte es schon gewaltig, bald flog ihm alles Mögliche um die Ohren.
Der Meldegänger Schicklgruber musste sich zusammenreißen, wollte er nicht als Kadaver enden.
Nach hundert Metern, die er wie einen betäubenden Traum erlebte, sprang Adolf Schicklgruber in den Graben. Er hielt nach Gerda Ausschau, vergebens. Er rannte weiter. Überall im Graben lagen Verwundete, Irre und Simulanten, über die er, Entschuldigungen keuchend, klettern musste, und die ihm bayrische Schmähungen und tote Ratten nachwarfen. Aber das war der Meldegänger Adolf Schicklgruber gewohnt.
Schmerzhaft wurde es erst, als er mit Kotze im Hals beim Kommandoposten ankam. Auf einem Tisch pickte die Brieftaube Gerda Sonnenblumenkerne, während der Kommandant den Umschlag von ihrem Bauch entfernte.
Meldegänger Schicklgruber schlug die Hacken zusammen und japste: "Herr Oberleutnant, bringe... über... Nachricht vom... Hauptquar... Inspek..."
Der andere winkte ab, er hielt schon die Nachricht von Gerda in den Händen. "Jaja, Schicklgruber, schon gut." Dann, zu einem anderen Offizier gewandt: "Diese dicke Brieftaube hat schon wieder gewonnen. Erstaunlich." Dann wieder zu Schicklgruber: "Nehmen Sie einen Schluck gesüßten Holundertee, und dann... äh... Abmarsch."
Leider war der gesüßte Holundertee schon alle oder der Koch wollte Schicklgruber keinen geben. Er verschnaufte neben einem Mann mit Kopfverband, von dem er nicht wusste, ob er noch lebte. Als Schicklgruber sagte, "ein schöner Tag, Kamerad, nicht wahr?", blieb es still. Am Himmel zogen Schafswölklein dahin. Er zählte siebzehn. Dann stieg er aus dem Graben, nahm die Beine unter die Arme und hoffte, dass die Scharfschützen drüben gerade schliefen.
Als das Donnern der Kanonen nur noch ein Grollen war, machte Schicklgruber Pause am Rande eines Kraters und betrachtete die Mondlandschaft um sich herum. Er fragte sich, ob hier je wieder etwas wachsen würde.
Aus seinen Gedanken wurde er erst gerissen, als er benommen zusah, wie die Brieftaube Gerda direkt vor seinen Füßen landete – als könne man nirgendwo sonst landen. Gerda tapste mit ihren drahtigen Beinchen herum und suchte den Boden nach Futter ab, obwohl sie die Sonnenblumenkerne noch kaum verdaut hatte.
Adolf Schicklgruber zog seine Pistole und zielte.
"Du dummer Vogel, dir geb ich gleich was zu fressen", schrie er. Er saß da, den Arm mit der Pistole auf die angezogenen Knie gestützt, die Sonne war so stark geworden, dass seine Haut glänzte vor Schweiß.
BAM!
Gerda rollte den Kopf zu Schicklgruber. Schon wieder hatte er verfehlt. Beschämt steckte er die Pistole ins Holster zurück, so als ob ihm jemand zugesehen hätte.
Joel Bedetti lebt in Zürich.
Maike Bernhardt
Die Sehnsucht fliegt nach Hause
Ich wuchs in einem kleinen Dorf in der Mitte von Schleswig-Holstein auf, und Tiere waren für uns ganz selbstverständlich ein Teil unseres Lebens. Wir hatten einen Hund, eine Katze, Hühner und Brieftauben. Letztere waren der ganze Stolz und die Freude meines Vaters.
Nun muss ich dazu anmerken, dass mein Vater ein richtiger Einzelgänger war, der am liebsten allein in seinem Garten und bei seinen Tieren war. Wir Kinder lernten viel von ihm: Morgens wurde sich als erstes um die Tiere gekümmert, er stapfte raus in den Schnee und versorgte die Hühner und Tauben mit frischem Wasser, bevor wir frühstückten. Meine Mutter grollte oft genug über "Die Sauerei im Küchenspülbecken!", wenn dort Eisreste vom Auftauen lagen. Sie teilte diese Tierliebe nur begrenzt. Mein Bruder kümmerte sich um seinen Hund, und ich, ich hatte das Geflügel und später eine Bande Kaninchen.
In den 70ern aß man noch unbekümmert Taubeneier, das waren die "Kinderfrühstückseier" bei uns, und sie schmeckten mir gut. Und die Tauben, die schmeckten mir, ehrlich gesagt, auch gut. Mein Vater sortierte ein paar Mal im Jahr aus, und es gehörte eben dazu, dass die Tiere geschlachtet, gerupft und zubereitet wurden. Schön mit Petersilie und würziger Brühe.
Ich hatte auch meine eigenen Tauben, immer nur ein, zwei Stück, das reichte mir. Ich mistete die Ställe mit aus und fuhr mit zum Futterhändler, guckte beim Beringen zu und war auch nicht zimperlich, wenn es darum ging, von einer geschlachteten Taube den Ring vom Beinchen wieder zu entfernen.
Wettflüge machten wir nie mit; als meine Eltern noch in Kiel gewohnt hatten, hatte mein Vater sich in diesem Bereich gut ausgekannt und viele Flüge im Verein mit bestritten, aber in unserem Kuhdorf nicht. Dort gab es zunächst eher mal Streit, weil sich die Tauben auch für die Gemüsebeete der Nachbarn interessierten. Da im Laufe der Jahre aber zum einen die Gärtnerbegeisterung der Nachbarn nachließ und sie zum anderen merkten, in diesem Punkt war ihr Nachbar empfindlich, kehrte Ruhe ein. Die Tauben flogen eben. Wer neu ins Dorf zog, wusste das, und er wusste auch, dass Hähne morgens krähen.
Mein Vater hielt, auch als er alt und krank wurde, immer seine kleine Taubenschar. Es machte ihm große Freude, morgens den Schlag zu öffnen, und alle Tauben stoben los und flatterten heraus. Auf seinen Ruf "Kommt!" flogen sie abends alle sofort in den Schlag. Wundervoll, Tauben auf dem Hausdach zu sehen. Für mich war das eine Selbstverständlichkeit. Ich höre immer noch das Geräusch der Taubenschwingen, wenn ich die Augen schließe und mir vorstelle, dass ich wieder zu Hause im Garten sitze. Ich höre die Tauben über das Terrassendach tippeln, höre ihr Gurren.
Mein Vater ist seit fast vier Jahren tot. In seinem letzten Lebensjahr hatte meine Mutter die letzten Tauben abgeschafft. Das hatte ihn schwer getroffen. Mich auch, aber ich sah es ja ein, es war niemand da, der sich um die Tiere kümmern konnte. Der Stall draußen war so leer, der Garten verwilderte, schon lange gab es keinen Hund, keine Katze, keine Hühner mehr dort.
Meine Mutter verkaufte mein Elternhaus bald nach dem Tod meines Vaters. Die neuen Besitzer rissen als erste Tat die alten Ställe ab.
Ich weiß, ich werde niemals selbst Tauben halten. Aber die Sehnsucht, die fliegt nach Hause, in ein kleines Kuhdorf in der Mitte von Schleswig-Holstein: Es ist Sommer, ein Schwarm Tauben fliegt im weiten Bogen über die Dächer, silberglänzend in der Morgensonne, elegant, frei.
Maike Bernhardt lebt in Neumünster.
Katharina Kretschmer
Efectos de la guerra civil
Nadia Alfarot lebte bereits seit 73 Jahren ungestört und in völliger Abgeschiedenheit. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, ihr Haus zu verlassen. Nicht einen Tag hatte sie zu keiner Zeit woanders als in diesem Dorf verbracht, und es sah nicht so aus, als würde sich das jemals ändern. Zumindest nicht bis heute Abend.
Heute Abend war Juana heimgekehrt – endlich, wie Nadia zuerst dachte, denn endlos hatte sie ihre geliebte Taube vermisst. Und weil Nadia sich tief in ihrem Innern denken konnte, es eigentlich mit Sicherheit wusste, was ihr Vetter aus der Stadt ihr mitteilen wollte, schob sie das Öffnen der Nachricht lange vor sich her.
Später fraß Juana seelenruhig die guten Körner, die sie heute zur Abwechslung in ihrem Napf gefunden hatte. Nadia erzählte ihr mit Samtstimme, was für eine großartige Taube sie sei und so schnell... Und als Nadia nichts weiter einfiel, kümmerte sie sich um die anderen Tauben, gab auch ihnen das gute Futter, weil die Zubereitung so lange dauerte.
Zuletzt beobachtete Nadia den Sonnenuntergang hinter den Hügeln, ganz genau wie jeden Abend seit vielen Jahren. Erst danach, als Schatten ihren Hof endgültig besetzten, entschied sie sich, ins Haus zu gehen.
Dort öffnete sie den Brief, der zum Schutz mit Papier umwickelt und mit einer ledrigen Kordel verknotet war, legte ihn vorerst weg und atmete viele Male ein und aus. Sie griff das dünne, vom vielen Falten zerknitterte Blatt und überflog den eilig dahin geschmierten Text. Einmal. Zweimal. Dann erst las sie richtig und erstarrte, obwohl sie es doch gewusst hatte:
Alle Verteidigungen waren gefallen, die Nationalisten auf dem Vormarsch. Umliegende Siedlungen mussten aufgelöst werden. Und Nadia sollte fliehen.
Im Prinzip hatte sie es geahnt. Eigentlich, irgendwie, war ihr das bewusst, lief ihr ganzes Leben bloß auf diese Entscheidung hinaus. Darauf, vor dieser Entscheidung zu stehen und nicht zu wissen, wie es weitergehen sollte. Niemanden zu haben, dem man sich anvertrauen konnte, der einen verstehen würde. Die Tauben hier lassen – unmöglich! Sie waren ihr Lebenswerk, sie waren alles. Aber das würde die Vögel nicht retten, ob Nadia nun ausharren oder fliehen würde.
Man müsste die Volierentüren öffnen. Tauben würden wegfliegen, wenn die Schüsse näherkämen. Alleine hätten sie eine bessere Chance. Allein hätte auch Nadia eine größere Chance.
Grübelnd taumelte sie durch ihr Haus. Es war alt, verfallen. Ab und zu waren Leute gekommen, um ihr Angebote für das Grundstück zu machen. Selbst vor einigen Wochen war noch jemand da gewesen, es wurden weniger, aber es brach niemals ganz ab. Man bot ihr viel Geld für ihre Verhältnisse, und das für eine Ruine. Nadia willigte keinesfalls ein, sie dachte nicht einmal über die Angebote nach.
Endlich entschloss sie sich, zu fliehen. Welche Möglichkeiten blieben denn? Sie wollte zurückkehren, eines Tages, wenn die Wogen des Krieges geglättet wären. Vielleicht würden einige ihrer Täubchen auch wiederkehren und sie hier finden, und alles wäre beim Alten. Viel Luxus brauchte sie ja nicht, und Futter für die Vögel ließ sich immer finden.
Nadia verließ das Haus und betrat den Hof, schritt feierlich auf die Volieren zu und öffnete sie. Sie drehte sich um ohne einen letzten Blick, hinter sich hörte sie das Flattern so vieler Flügel und konnte kaum glauben, was sie erlebte: dass alle Tauben so einfach davonflogen.
Ein allerletztes Mal wandelte Nadia Alfarot über die hölzernen Dielen ihres Vaterhauses. Auf diesem Boden hatte sie laufen gelernt, sprechen und ihrem Vater bei der Pflege seiner Waffen zugesehen. Wenn die Hunde schon erregt bellend vor der Tür umherliefen, hatte ihr Vater sie auf die Stirn geküsst, dann ging er zur Jagd. Einmal brachte er ihr die erste Taube mit, die sie gemeinsam pflegten und aufzogen, Juvea. Ein anderes Mal kehrte er gar nicht heim, nur sein Lieblingshund stand plötzlich zitternd im Flur.
An dieses Tier erinnerte sich Nadia oft. Atilan kam aus einem weit entfernten Land, ihr Vater hatte ihn von einer seiner Reisen mitgebracht. Seitdem war der Hund ihm nicht mehr von der Seite gewichen, nur von Señor Alfarot ließ er sich streicheln. An diesem Tag legte Atilan sich still in den Sessel seines Herrn. Dort verharrte er, bis er abends einschlief und am nächsten Morgen nicht mehr erwachte. Den Überfall der Banditen auf seinen Gebieter hatte er unbeschadet überstanden – nur um nach Hause zurückzukehren und sich von da aus auf die Reise zu machen, seinem Herrn zu folgen. Er war nach Hause zurückgekehrt. Hatte den Tod auf sich genommen.
Nadia wollte ihm mitnichten davonlaufen. Jetzt nicht mehr, jetzt sah sie klarer. Und als sie das trockene Gras hinter dem Haus betrat, überraschte es sie keineswegs, dass sie nicht allein dort stand. Juana. Juana war nach Hause zurückgekehrt, als Einzige von vielen Tauben. Müde sah sie aus, noch nicht erholt von der Reise. Aber das würde sich ändern.
Katharina Kretschmer ist 17 Jahre alt und lebt in Erfurt.
Ursula Müller
Kroppzeug
"Da sitzt eine kranke Taube im Vorgarten!", rief ich ins Wohnzimmer.
Mein Mann sah mürrisch von seiner Zeitung auf. "Degeneriertes Kroppzeug! Du erwartest doch hoffentlich nicht, dass ich sie wegmache?", fragte er und las an der Stelle weiter, die er mit dem Zeigefinger markiert hatte.
Ich ging wieder vor die Haustür. Insgeheim hoffte ich, das Tier nicht mehr anzutreffen. Doch es saß noch genau an derselben Stelle. Eine ganz gewöhnliche Taube. Graublau, an den Flügeln etwas weiß, der Hals rot-grün schillernd. Alle Federn waren in ordentlichem Zustand, nirgends ein Hinweis auf eine Verletzung oder Krankheit.
Während ich näher an sie heranging, beäugte sie mich genau. Langsam hockte ich mich nieder. Sie richtete sich auf, und da sah ich zwei Ringe über ihren roten Füßen. Sie war also etwas Besonderes.
"Na, und? Was ist mit dem Vieh?", fragte mein Mann plötzlich hinter mir.
"Es ist eine besondere Taube. Sie hat Ringe an den Beinen", flüsterte ich.
Mein Mann überlegte kurz. "Wahrscheinlich gegen die Scheibe geflogen. Oder vergiftet worden."
Ich hörte, wie er die Garagentür öffnete und beiläufig meinte: "Am besten, ich nehme den Spaten."
"Was soll das? Sie ist doch gar nicht krank, auf jeden Fall sieht man ihr nichts an. Vielleicht lässt sie sich ja einfangen und wir können nachschauen, was auf den Ringen steht."
"Du willst doch nicht im Ernst das Vieh anfassen? Wer weiß, was die für Krankheiten mit sich schleppt." Mein Mann, seit einem halben Jahr pensionierter Ingenieur, hatte ein eher neutrales Verhältnis zu Tieren, außer zu Ratten und Tauben. Denen schrieb er widerwärtige, apokalyptische Fähigkeiten zu.
"Früher hat man gebratene Tauben gegessen", konterte ich, obwohl ich genau wusste, dass dieses Argument nur darauf brannte, vernichtet zu werden.
"Pah! Da gab es auch noch nicht den ganzen Giftmüll in der Umwelt. Und wer war im Mittelalter für die Verbreitung von Pest und Cholera zuständig?"
"Ratten und Tauben, nehme ich mal an." Nun hatte ich wieder Ruhe. "Aber ich möchte sie mir trotzdem mal anschauen", entschied ich danach gelassen.
Kopfschüttelnd ging mein Mann zurück ins Haus.
Ich kramte im Keller einen alten Käfig hervor und setzte ihn auf die Terrasse. Dann schlich ich mich vorsichtig an die Taube heran. Zu meinem Erstaunen konnte ich sie ohne Gegenwehr greifen. Ihr Körper fühlte sich angenehm warm an und ihre Augen musterten mich ohne Scheu. Auf einem der Ringe erkannte ich eine Telefonnummer.
Ich bat meinen Mann, sie aufzuschreiben und bekam sofort den Ratschlag, mir gründlich die Hände zu waschen. Seinem Gesichtsausdruck nach traute er selbst der Telefonnummer eine infizierende Wirkung zu.
Ich entließ das Tier mit ein paar Haferflocken und einem Tellerchen Wasser in den Käfig. Die Taube pickte ein wenig, fast wie aus Höflichkeit, und blieb dann regungslos sitzen. Nun begann ich mir doch Sorgen zu machen. Vielleicht war sie tatsächlich krank.
"Sie frisst nicht!" Entmutigt setzte ich mich auf einen Sessel.
Mein Mann ging zur Terrassentür. "Aber etwas hinscheißen kann sie. Sieh dir das an! Erinnerst du dich noch an die blöden Viecher, die uns das ganze Dach verdreckt haben?"
Ich konnte ihn damals nur mühsam davon abhalten, das Problem mit der Luftpistole zu lösen, und um ihn auf andere Gedanken zu bringen, schlug ich vor: "Ich ruf jetzt da mal an!"
"So ein unnützer Aufwand für ein verlaustes Federvieh!", brummte er.
Die Vorwahl gehörte zu einem ungefähr fünfzig Kilometer entfernten Ort. Nach einer kurzen Weile ertönte die Stimme eines älteren Herrn. "Ach, da ist sie gelandet. Ich hab' schon auf sie gewartet. Ganz schön vom Kurs abgekommen, die Gute."
Es handelte sich tatsächlich um eine echte Brieftaube. Und um eine sehr wertvolle noch dazu. Ich bekam vom Besitzer einige Informationen, und dann legte ich erleichtert auf. "Weißt du, wie viel diese Taube an einem Stück geflogen ist?"
Gleichgültiges Achselzucken.
"Fünfhundert Kilometer!" Ich schüttelte vor Bewunderung für dieses unscheinbare Wesen den Kopf. "Wer weiß, was für eine Nachricht sie überbringen soll? Vielleicht etwas ganz Wichtiges oder Geheimes."
Mein Mann lachte auf. "Bestimmt steht drauf: Komme heute etwas später. Bin aufgehalten worden."
Beinahe hätte ich das Wichtigste des Telefongesprächs vergessen. Ich eilte in die Küche und füllte Reis auf ein Tellerchen. Und sofort pickte unser Gast sekundenschnell alle Körner auf. Zufrieden deckte ich eine alte Tischdecke über den Käfig, und am nächsten Morgen ließ ich dieses weit gereiste Hochleistungsgeschöpf in die Lüfte frei. Mit kräftigen Flügelschlägen entfernte es sich in die Richtung, in der ich den Zielort vermutete.
Am späten Nachmittag klingelte das Telefon, und mein Mann nahm ab. Von der Küche her vernahm ich:
"Ach, wieder angekommen. Ja, nichts zu danken. War doch kein Problem." Und dann wurde über Höchstgeschwindigkeit, maximale Flughöhe, Frequenz des Flügelschlags und Wettkampfbedingungen gesprochen. Und dass es doch sehr interessante Hobbys gibt.
Ich schmunzelte und verschwand schnell wieder in der Küche. Kurz darauf hörte ich meinen Mann aus dem Wohnzimmer rufen: "Das blöde Vieh ist übrigens wieder angekommen!"
Ursula Müller lebt in Monheim am Rhein.
Lisa Paetow
Auf Reisen
Es ist so schön hier. Wie in einem der Postkartenbilder, die man immer in den Metallständern findet, zerknittert und zerknickt und doch irgendwie sehnsüchtig. Der Wind braust mir um die Ohren, die Bäume wiegen sich, als wären sie lebendig. Ihre Kronen sind gelb und orange und hellgrün und braun gefärbt. Das perfekte Herbstwetter. Und wahnsinniger Himmel. Himmel über mir, so weit das Auge reicht. Mir gefällt der Gedanke, dass er unseren Planeten umspannt, weil das bedeutet, dass alle durch ihn irgendwie miteinander verbunden sind.
Ich beeile mich und habe bald die Lichtung erreicht. Die Blätter an den Ästen fühlen sich feucht und schwer an. Die Nadeln der Tanne, die ich streife, kitzeln meine Brust. Weiter und weiter. Die Stämme, umschlungen von knorriger Rinde, fliegen an mir vorbei. Ihre Konturen verwischen. An dieser Stelle des Waldes hängt der Nebel morgens besonders lange in den Zweigen. Ich atme ein und höre mich selbst die Luft einsaugen im mucksmäuschenstillen Forst. Das Geräusch scheint die Gräser am Boden zum Vibrieren zu bringen. Aber vielleicht ist das auch nur der Wind. Doch nur der Wind. Mein Bein wird langsam etwas schwer.
Ich bin ein Reisender. Dieses Mal ist mein Ziel der Hof der alten Dame. Seit Jahren lebt sie dort alleine, und das Gebälk um sie herum verfällt immer mehr, ebenso wie ihr eigener Körper. Aber niemand wagt es, ihr das zu sagen, und vermutlich ist das gut so. Sie ist sehr stolz. Und eitel. Das Erste, was sie tut, wenn sie aufsteht, ist, sich das Haar zu kämmen. Eigentlich hätte sie das Haus mit der Scheune, dem Stall und den weiten Weiden längst verkaufen können, genug Angebote gab es. Doch sie hat ihr Herz an dieses Grundstück gehängt.
Im Gepäck habe ich einen Brief für sie von Herrn Roseblohm. Er ist fast so alt wie die alte Dame, einige Jährchen fehlen bloß noch. Und ich denke, er mag sie gerne.
Jetzt verlasse ich den Wanderpfad und schlage mir meinen Weg durch das Dickicht. Das ist leicht, da die Bäume hier nicht sehr dicht stehen. Die schwarze Erde des Waldes ist bedeckt mit Laub. Es sieht aus wie ein Teppich, aus tausend löchrigen Blättern geflickt. Die Luft ist immer noch kalt. Zeit, dass die Sonne mit dem Tag aufsteht und meine Glieder bescheint, die sich schon etwas steif anfühlen. Natur. Natur, um mich herum. Sie riecht nach klebrigen Würmern und verwesendem Leben, das sich dem nahenden Winter hingibt. Nach abgestandenem Wasser und glucksendem Moor.
Da entdecke ich sie. Es sind zwei von ihnen, zwei Männer. Ich sehe sie nur, weil sie sich kurz bewegen und der Boden unter ihren Füßen verdächtig raschelt. Sie tragen grüne Jacken über den Schultern, die sie wärmen. Einer führt seine Hände an den Mund und pustet in sie hinein, weil er so friert. Es geht alles ziemlich schnell. Ihre Gesichter wenden sich mir zu, und Sekunden später blicke ich in ihre konzentrierten Augen. Dann in den pechschwarzen Lauf. Und dann höre ich den Schuss.
Seltsamerweise habe ich keine Angst. Ich habe gar nichts mehr. Ich kann mich nicht einmal rühren, da ist es bereits vorbei. Ein Seufzer. Aus meinen Rippenbögen quellend? Ein Weiß, das eilig mein Sichtfeld blendet: Als erstes den Wald, dann die Beine der Männer und zum Schluss das Laub. Dann klingen für einen Moment die Geräusche nach. Hastige Schritte. Hastiger Atem. Sich entfernend. Und ich löse mich auf in dem Weiß.
Fürchtet euch nicht vor dem Sterben und schon gar nicht vor Schmerzen. Falls etwas weh tut, ist es in dem Moment, wo ihr es bemerkt, bereits wieder vorbei.
Tage später findet mich einer. Es ist weder Herr Roseblohm noch die alte Dame, die beide auf mich warten werden. Der Spaziergänger streicht über meine toten Taubenflügel. Er bekommt einen Kloß im Hals, als er auf mein zerschossenes Gefieder schaut. Nach einer Weile beschließt er, mich zu begraben. Mit seinen Händen wühlt er ein kleines Loch. Erst, als er mich behutsam anhebt, fällt ihm der Brief auf. Er runzelt die Stirn, zupft das Papier von meinem Bein und faltet es auseinander. Einmal liest er den Brief. Dann ein zweites Mal. Ich habe ihn selbst nicht gelesen und habe deshalb keine Ahnung, was in ihm steht, aber es muss etwas Gutes sein, denn der Spaziergänger lächelt gedankenverloren, während er meine Federn mit Erde zuschaufelt.
Ein Grab für mich. Wie nett. Und wahnsinniger Himmel. Himmel über mir, so weit das Auge reicht. Hoffentlich ist Oskar Roseblohm nicht allzu traurig über mein Verschwinden. Doch er hat ja noch die anderen. Die anderen Brieftauben.
Lisa Paetow ist 17 Jahre alt und lebt in Hamburg.
Raya Rosok
Das Geheimnis der Schriftrolle
"Oh, Mama guck mal!" Die kleine Laura rüttelte an Mutters Arm. "Da fliegen drei schwarze Punkte am Himmel." Jetzt hatte sie auch Mama entdeckt und sagte: "Das sind Stadttauben. Sie fliegen in der Stadt herum und suchen nach Brotkrümeln, die auf dem Boden liegen!" Laura überlegte: "Aber sie sind viel zu schnell für Tauben. Das müssen fliegende Rennpferde sein!" "Wie dem auch sei. Komm, wir holen uns ein Eis! Sonst kann man es nicht aushalten an diesem heißen Tag." Schon verschwanden sie im Eis-Café Giovanni.
"Skinny, hast du das gehört? Die da unten behaupten, dass wir Rennpferde sind." "Damit meinen die, dass wir schnell fliegen können", mischte sich Urs ein. "Aber wir sind Brieftauben und nicht 'Pferde'." Oscar sprach "Pferde" so aus, als wäre es das wertloseste Wort auf der Welt. "Na und! Dann sind wir halt keine Pferde, sondern schnelle Brieftauben", antwortete Skinny. "Streitet euch nicht. Ich will wissen, wo ihr beide hinfliegt", lenkte Urs ab, "also ich fliege zum alten Mann, um ihm diesen Brief zu geben!" Er zeigte eine Schriftrolle, die mit goldenem Samtband an seinen Fuß gebunden war. "Und ihr?" "Ach, wir fliegen nur so herum", antwortete Skinny. "Wir, Skinny und ich, könnten mitkommen", gurrte Oscar. "Na dann los!"
Nach vielen Flügelschlägen entdeckten sie einen kleinen Hügel, auf dem eine winzige Gartenlaube stand. Bevor sie sie erreichten, hielt Oscar an. "Vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn wir uns den Brief mal angucken würden, ehe ihn der Mann liest!" "Keine schlechte Idee! Ich will wissen, was drin steht", beschloss auch Skinny. Urs wollte nicht: "Wenn mich jemand erwischt, darf ich keine Briefe mehr tragen. Dann bin ich nur noch eine ganz normale Taube, die in der Stadt herumfliegt und nach Brotkrümeln sucht." Sie diskutierten lange und schließlich wurde auch Urs überredet: "Nur, wenn wir uns dabei in dem großem Gebüsch dort hinten verstecken!" Er zeigte mit seinen schwarzen Flügelspitzen auf einen Busch, der mitten im Wald stand. "O.K.", gurrten die beiden anderen im Chor.
Ungeschickt landeten sie mit einem Sturzflug im Gestrüpp. "Alles klar? Ist euch was passiert?" "Nö, alles klar!" Die drei Brüder guckten sich um und sahen, dass sie sich in einem dunklen Dickicht befanden. Urs sagte: "Mist, ich glaube, ich habe sie verloren!" "Äh, wen? Wen hast du verloren?" Skinny schaute ihn verdattert an. "Na, die Schriftrolle! Sie muss hier irgendwo hängengeblieben sein." "Komm wir suchen sie!", fand Oscar.
Als die drei aus dem Busch kamen, mussten sie ihre Flügel erst einmal von dem rotbraunen Laub befreien. "Bahh, das nasse Laub klebt", schrie Skinny, "Urs, kannst du mir das braune Blatt von meinem Rücken wegmachen? Da komme ich nicht hin." Urs zupfte das nervende Etwas von Skinny. Nachdem das letzte Blatt vom Körper war, ergriff Oscar das Wort: "Wir müssen uns auf den Weg machen, bevor jemand den Brief findet und ihn womöglich noch aufmacht." Urs gab den guten Rat: "Sucht nach etwas, das golden blinkt!" Auf einmal sah Skinny das, was sein Gesicht aufhellen ließ. "Ey, Brüder kommt mal her! In diesem Busch glänzt irgendwas." Aber als sie näher kamen, waren es nur Lichtflecke, die die Sonne durch Reste von Flaschen auf den Boden spiegelte, so wie bei einer Lupe. 'Oh, schade! Nur nicht an den Scherben schneiden', dachten sich die Geschwister.
Plötzlich hörten sie ein dumpfes Geräusch, das klang, als würde ein schwerer Riese laufen. Es war kein Riese, sondern ein Kind mit einer Steinschleuder. Es trug einen toten Fasan. Im gleichen Moment sah Urs das Samtband und daran auch die Schriftrolle. Er wollte losfliegen. Aber Skinny, der seinem Blick gefolgt war, hielt ihn, so gut es ging, fest: "Stopp! Es entdeckt ..." Die letzten Worte hörte Urs nicht mehr. Er hatte sich losgerissen und flog über sie hinweg, zu dem Baum, an dem er die Schriftrolle gesehen hatte. Oscar erschrak: "Was hat er denn jetzt vor?" Skinny antwortete nachdenklich, ohne dabei in Urs' Richtung zu schauen: "Er hat die Schriftrolle gesehen. Komm, wir müssen ihm nach, sonst wird er noch von dem bösen Kind mitgenommen und gequält! So wie der Fasan."
Diesmal hielt Oscar Skinny fest. "Sieh doch, er hat die Schriftrolle zwischen seinen Krallen! Er kommt zu uns!" Skinny schaute Urs verwundert an, als er wieder zurück war. "Wie hast du denn das gemacht?" "Ganz einfach, ich bin wie ein Rennpferd durch die Lüfte geflogen." Oscar unterbrach ihn: "Jetzt mach sie schon auf. Wir haben es kapiert! Wir wollen wissen, was drin steht." "Warte, wir müssen wieder ins Gebüsch, ihr wisst schon! Aber diesmal langsamer. Nicht, dass mir die Rolle schon wieder verloren geht!" Als sie im Dickicht waren, packte Urs endlich die Schriftrolle aus. Alle beugten sich gespannt über das Papier. Dort stand:
Hallo lieber Hans,
ich wollte dich fragen, ob du am Dienstag Zeit hast und zu meinem Eis-Fest kommst. Ich feiere um 15.00 Uhr. Es kommen auch noch andere Gäste, die wir kennen.
Dein Giovanni
"Das ist ja morgen!", bemerkte Skinny "Oh, dann müssen wir dies sofort dem alten Mann in die Hütte bringen." "Okay, ich mach nur noch die Rolle zu." Sie flogen heraus aus dem Busch, um auf dem schnellsten Weg zu dem Mann zu gelangen. Als sie bei ihm ankamen, meinte Urs: "Ihr müsst draußen bleiben. Ich war schon öfter bei ihm. Er mag es nicht so, wenn mehrere reinflattern." "Aber wir können sagen, dass wir zu dritt geschickt worden sind." Skinny hatte noch nie den alten Mann gesehen, deshalb wollte er unbedingt mit. Oscar unterstützte Urs: "Verstehst du das denn nicht? Der alte Mann könnte Giovanni fragen, ob er drei Tauben geschickt hat. Darauf würde dieser 'nein' antworten. So gelangen wir unter Verdacht." Nach kurzer Zeit flog Urs schließlich alleine durch die Tür, warf den Brief vor Hans, dem alten Mann, ab und kam ganz außer Puste wieder aus dem Gartenlaubenfenster heraus.
Sie hatten keine lange Heimreise.
Als die drei Brüder in ihrem Taubenschlag kurz vor dem Einschlafen waren, flüsterte Urs: "Wir Rennpferde haben eine große Reise gemacht. Morgen fliegen wir zu dem Fest von Giovanni. Vielleicht treffen wir das kleine Mädchen mit seiner Mutter." Dann schliefen alle ein und träumten von morgen.
Raya Rosok ist 9 Jahre alt und lebt in Kornwestheim.
Ingo Cesaro
MANÖVER
Übungen an Sonntag
Vormittagen
meine Brieftauben
mit Spezialtransportern
nach Düren oder
Bonn
nichts von
den Plaza de Toros
nichts von
suertes(1)
fast unerträglicher Sonne
und Sand und Blut und
Stieren
meine Angst getarnt
im Verein
ich probe für den Fall
dass die Zensur
weiße Flecken
in sonst schwarz bedrucktes
Zeitungspapier
frisst
und obwohl noch zu früh
lasse ich den Taubenschlag
heute
nicht mehr
aus den Augen.
Anm.(1): suertes=spanisch, geglücktes Manöver beim Stierkampf
Ingo Cesaro lebt in Kronach.
Ursula Gressmann
Brieftaubentrilogie
Die Tauben
Die Tauben nicken
federleicht
mit ihren Köpfchen
rufen sehnsuchtsvoll
den Wind herbei
für ihre lange Reise
Gute Reise
Wind im Gefieder
zerzaust du
das Himmelsblau
gleitest
pfeilschnell dahin
graugefiederte Taube
nimm meine
Sehnsucht mit
Ende der Reise
Leise lockst du
Rugu guru
Rugu rugugu ru
oben im Wipfel
der Birke
lass ihn pfeifen
den Wind
du hast heimgefunden
Ursula Gressmann lebt in Borken.
Heinz-Helmut Hadwiger
Ich ziehe das Häubchen, mein Täubchen
Mir wäre sie überhaupt nicht aufgefallen. Meine Mutter aber, die in der Stadt aufgewachsen ist und dort mit ihrer Großmutter oft in Parks ging, um Tauben zu füttern, meine Mutter hat sie sofort auf dem Dach unseres Nebengebäudes entdeckt.
"Philipp", sagte sie, "auf unserem Schuppen sitzt eine besondere Taube. Die stammt nicht aus dem Taubenschlag vom Lehner-Bauern."
Der Lehner-Bauer war unser nächster Nachbar am Land. Seit geraumer Zeit hatte er den alten Taubenschlag wieder besetzt, womit auch bei uns ein ewiges Gegurre anhob, das anfangs sehr störte, woran wir uns aber alsbald gewöhnten.
"Jetzt sag nur noch, du kennst jede Nachbartaube persönlich!", zog ich meine Mutter auf.
"Namentlich haben sie sich mir zwar noch nicht vorgestellt, aber aufgrund ihrer braunen und stahlblauen Farbe erkenne ich sie schon. Diese Taube ist jedoch gescheckt. Keine Lehner-Taube!"
"Dann können wir sie vielleicht fangen und als Delikatesse servieren. Gebratene Tauben sind mir seit den Märchen meiner Kindheit ohnehin keine mehr in den Mund geflogen", versuchte ich zu scherzen, indem ich zur Nachschau aufbrach.
Saß da doch wirklich so eine verlorene Taube, die einigermaßen erschöpft wirkte und mich bis auf fünf Meter herankommen ließ. Meine Habichtsaugen entdeckten zwar keine Beute, aber doch einen farbigen Ring an einem Bein und eine Art Behältnis am Rücken des Vogels.
Eine Brieftaube, ein "Rennpferd des kleinen Mannes" – Philipp, das mir als "Pferdefreund!", schoss es mir durch den Kopf. Sie befindet sich wohl auf dem Rückflug vom Auflassort zu ihrem Heimatschlag und legt hier ein Päuschen ein, weshalb sie auch bei meiner weiteren Annäherung nicht abhob. Die ist vom langen Fliegen sicher durstig, vermutete ich, stellte eine flache Schale in ihrem Sichtfeld auf und füllte sie laut plätschernd mit Wasser.
Kaum hatte ich mich zurückgezogen, um etwas Mais und Gerste, Sonnenblumenkerne und Leinsamen zu holen, saß sie schon am Schalenrand und trank. Während ich ihr mit dem Futter vorsichtig näher kam, schien sie solch Vertrauen in mich gefasst zu haben, dass sie mir aus der Hand fraß.
Nun konnte ich meine Neugierde nicht mehr bezwingen und holte aus dem "Rucksack" der Taube ein kleines Röllchen. Ob das Briefgeheimnis auch für Brieftaubenpost gilt?
Gleichwie, da ich die Taube "vor dem sicheren Flugtod gerettet" hatte, musste ich auch ihre weiteren Angelegenheiten klären.
Da stand in ungelenken Schriftzügen:
"Mein Täubchen!
Zauberhaft waren die Wochen,
die wir einander geliebt,
wie es kein zweites Mal gibt,
hatte ich auch nichts versprochen.
Nun flieg ich wieder nach Haus,
was ich schon immer gewusst.
Setzt's auch ein Ende der Lust,
ist unsre Liebe nie aus!
Lass ich dich traurig zurück,
werde auch ich manchmal weinen.
Damit verebbt unser Glück.
Wie ein Verlust will's mir scheinen.
Mir warst du schönstes Schmuckstück.
Du – weiß ich – findest dir einen."
Ein Liebessonett, wenn auch in ungewohnten Daktylen. Offenbar ein Abschied für immer. Der ausländische Liebhaber zieht seinen Hut und weicht. Die verlassene Geliebte hat es nicht leicht. Den geringsten Teil der Last trägt die Brieftaube. So liebevoll, wie ich sie geatzt hatte, wollte ich ihre Züchterin trösten.
Ich schrieb daher auf das Zettelchen:
"So einer wäre ich gern!
Liegt es mir auch äußerst fern,
mich dir so plump aufzudrängen.
Lass nur dein Köpfchen nicht hängen!"
Darunter setzte ich meine Telefonnummer, bevor ich die Botschaft wieder einrollte und der Taube überantwortete.
Kurz danach hob sie ab.
"Komm gut nach Deutschland zu meinem neuen Liebchen!", rief ich ihr nach. Ich hatte an ihrer Beringung die Buchstaben "DV" ausgemacht, wovon ich wusste, dass sie für "Deutscher Brieftaubenverband" stehen.
Ich dachte schon nicht mehr an diesen Vorfall mit dem Täubchen, als mich Wochen danach tatsächlich seine Züchterin anrief. Zucht und Anstand wahrend, habe sie lange erwogen, ob sie sich an mich wenden könne. Sie bedankte sich für die Betreuung ihres Lieblingsvogels wie auch für die ihr angebotene "Betreuung".
Wir trafen einander, ohne das Täubchen.
Heute ist sie meine Frau.
Hatte ihr Liebhaber auch den Hut gezogen, war mir nach dem Täubchen auch ihre Neigung zugeflogen, die sie unter die Haube brachte, unter ein "Häubchen" im Innviertel auf dem Lande, wo wir mit mehreren Tauben nun leben.
Wir sind dem österreichischen Brieftaubenverband (ÖBTZ) beigetreten, weil wir dem Täubchen unser Lebensglück verdanken.
Dr. Heinz-Helmut Hadwiger lebt in Weitersfelden in Österreich.
Maren Hager
Künstlerbesuch
Ich muss neun oder zehn Jahre alt gewesen sein, als mein Vater mich zu einem Künstler brachte. Er hatte ein Bild gemalt für die Chefetage der Bank, deren Direktor mein Vater war, und ich zeichnete gern. Das genügte. Mein Vater fuhr mich mit seinem Mercedes vor das Haus des Künstlers, sagte, in drei Stunden hole ich Dich wieder ab, sei bitte pünktlich, wendete und weg war er.
Ich ging durch den Vorgarten mit dem hohen Gras, hörte den Gesang der Vögel und ein leichtes Rauschen der Bäume. Es kam mir so vor, als seien Farben und Gerüche hier intensiver. Die drei Steinstufen vor der Tür des Fachwerkhauses waren bemoost. Ich suchte die Klingel, hielt die Mappe mit den Zeichnungen fest in meiner Hand, stellte mich auf die Zehenspitzen und versuchte, durch die kleine Fensterscheibe zu gucken. Die Tür wurde geöffnet. Vor mir stand ein Mann, nicht sehr groß, nicht mehr sehr jung, mit dunkelbraunen Haaren bis zur Schulter.
"Da bist du ja", sagte er, drehte sich um, ich folgte ihm. Er sah über die Schulter: "Eine Klingel gibt es hier nicht."
Der Künstler ging eine schmale Holztreppe nach oben auf den Dachboden, sein Atelier. Holzfußboden, schräge Wände und seine Bilder. Große Bilder, die an den Wänden lehnten oder auf dem Boden lagen. Ich sah enttäuscht auf Farbkleckse und abstrakte Formen: Das Bild in der Bank zeigte einen Stierkämpfer, der elegant tänzelte und sein rotes Tuch schwang. "So male ich eigentlich", sagte der Künstler, "das andere ist Auftrag."
Er setzte sich auf eine Holzkiste in die Nähe des Fensters und steckte sich eine Zigarette an. Seine Unterarme legte er auf seine Oberschenkel, in der rechten Hand pendelte lässig die Zigarette, die Asche fiel auf den Boden, hin und wieder nahm er einen tiefen Zug. Ob er den Holzfußboden mit den Farbklecksen oder seine Schuhspitzen anstarrte, konnte ich damals nicht unterscheiden. Zögernd setzte ich mich auf die zweite Holzkiste, ihm gegenüber, rutschte so weit nach vorn, dass meine Füße auf dem Boden standen. Meine Mappe mit den Zeichnungen lehnte ich an die Kiste.
Der Künstler saß mir schweigend mit rundem Rücken gegenüber. Mein Blick wanderte von den Bildern zu ihm, von ihm durch den Raum. Als ein Spatz quer durch das Atelier flog, bemerkte ich, dass die beiden Fenster keine Scheiben hatten. Neugierig sah ich hinunter. Ein kleiner verwilderter Garten, eine Frau, die sich im Bikini sonnte. Auf der anderen Seite der Vorgarten.
"Viel zu schönes Wetter heute", sagte der Künstler, holte eine neue Zigarette aus der Pappschachtel, lehnte sich zurück, nahm einen tiefen Zug und begab sich wieder in seine vorherige Körperhaltung, "viel zu schön, um zu arbeiten."
Eine Taube kam durch das Fenster geflogen, gurrte, landete auf dem Holzfußboden. Sie zwinkerte mir mit ihren dunklen Augen zu. Das Tier stolzierte einige Schritte auf und ab, streckte dabei den Kopf vor und zurück, sah mich an. Ein kleines Röhrchen am rechten Bein.
Ich betrachtete das Tier genauer. Sein grauer Hals war schlank und elegant, schimmerte an einigen Stellen smaragdgrün, das Gurren hörte sich sanft an. Ich legte mich bäuchlings auf den Boden, in Augenhöhe mit der Taube. Der Künstler rauchte, das Tier sah mich an. Herausfordernd. Es trippelte mit den Beinen, als sei es ungeduldig. Ich nahm mir einen der Zeichenblöcke, die im Regal lagen, und einen Bleistift und begann, die Taube zu zeichnen. Zuerst der zarte Kopf, das glatte Gefieder am Hals, die kleinen Augen, der spitze Schnabel und schließlich die zerbrechlich wirkenden Beine. Ich zeichnete die Umrisse der Taube, konzentriert auf ihre klaren Linien. Je länger ich sie zeichnete, umso mehr erkannte ich, dass ich heute zum ersten Mal eine Taube sah.
Dann die Zweifel: War sie grau? Nicht hier etwas Silber und dort ein bisschen Blau? Vorne an der Brust ein seichter rosa Schimmer? Ich nahm den großen Kasten mit den Pastellkreiden aus dem Regal und setzte mich dann auf den Fußboden. Während ich das weiche Material auf dem Papier zerrieb, war mir, als könne ich die Taube anfassen, als würde sie durch mich ein zweites Mal lebendig werden. Ich fühlte die Taube nach, ließ meine Finger an ihrem glatten Hals, ihrer leicht gewölbten, festen Brust entlang gleiten, spürte ihr pochendes Herz.
"Schönes Tier", sagte der Künstler. Ich hatte nicht bemerkt, dass er hinter mir stand und mein Bild betrachtete. Dann ging er zu der Taube, nahm ihr das Röhrchen ab, setzte sich wieder auf die Holzkiste, steckte den Inhalt des Röhrchens, der für mich aussah wie ein Scheck, in seine Hosentasche, zündete sich eine Zigarette an, stützte sich mit den Unterarmen auf den Oberschenkeln ab, rauchte.
"Kein Telefon", sagte er. Nach einigen weiteren Zügen an der Zigarette: "Auch kein Handy." Er legte den Kopf in den Nacken, stieß eine Rauchwolke aus: "Und erst recht keinen Computer."
Ich setzte mich wieder ihm gegenüber auf die Kiste, durchdrungen von der Weisheit, was Zeichnen wirklich bedeutet und sah ihm zu, wie er seine Zigarette zu Ende rauchte. Langsam. Mit Genuss.
"Und irgendwie muss man ja mit der Menschheit in Kontakt bleiben", lächelte er, nahm die Taube behutsam in seine Hände und trug sie zum Taubenschlag ins Nebenzimmer.
Maren Hager lebt in Berlin.
Cornelia Kailuweit
Die Taube
Ja, es war, soweit ich glaube,
eine Taube,
die zuvor ganz unverdrossen,
über mich hinweggeschossen.
Einen Liebesgruß dabei,
das wohl war ihr einerlei.
Einz'ges Ziel in ihrem Sinn,
war, zum Schlage muss ich hin.
Ohne Rast und ohne Ruh,
flog sie auf ihr Ziel hinzu.
Auf dem Wege dann und wann,
konnte man an manchen Orten,
ihre Spur am Boden orten
oder auf dem neuen Kleide,
was nicht jedem eine Freude.
Als sie dann nach langem Wege,
endlich ankam im Gehege,
war die Freude riesengroß.
Einerseits der Grüße wegen,
andrerseits, weil sie zugegen.
Und des Züchters Herz sodann,
freudig in Empfang sie nahm.
Denn hier war sein Stolz belohnt,
hat sich doch die Müh gelohnt.
Cornelia Kailuweit lebt in Weinstadt.
Ernest-Edmond Keil
Cala Millor
(Mallorca)
Ich seh Brieftauben
die nicht anders als ich
den Kopf zum Licht gekehrt
den Sonnengott anbeten.
Ich seh Antennen
die diese Frühlingsinsel
mit der alten Welt verbinden
den Ländern des Schnees.
Ich seh einen Himmel
der ohne Regenwolken bleibt.
Ich seh ein Meer
blauer als der Himmel.
Ich seh Felder
mit kleinen gelben Blumen
und dem duftenden Blütenschnee
von abertausend Mandelbäumen.
Aber dich, meine Königin
dich seh ich nirgendwo.
Wohin ich auch blicke
seh ich nur meine Tauben
beringt mit unzähligen Briefen
die ich unausgesetzt schreibe
dass du kommst und mich küsst
du nicht anders als ich
den Kopf zum Licht gekehrt
sie alle siehst: Die Sonnen
die Antennen und die Himmel
die Felder und die Tauben.
Ich seh, bis am Abend
der Horizont zu Asche verglüht.
Spür die Glut des Feuers
die das Herz mir versengt.
Prof. Ernest-Edmond Keil lebt in Sinzig (Bad Bodendorf).
Ursula Lübken-Escherlor
Henry
Die Luft an diesem Septembertag war so weich, so seidig mild, als sei der Sommer noch einmal zurückgekehrt. Ein Käfer, grün wie ein Smaragd, lief am Fensterglas. Auf der Gartenskulptur putzte sich ein Gimpel, während ich aus dem Fenster sah und gegen die tief stehende Sonne blinzelte.
In meine Beobachtung hinein stolzierte eine Taube – ganz am Ende des Gartenwegs. Sie lief hin und her, wippte bei jedem Schritt mit dem Kopf – vor und zurück. Ein eher seltener Gast. Beide Füße waren beringt, was meine Vermutung bestätigte, dass es eine Brieftaube war. Verflogen? Das Ziel verfehlt? Sie trank ausgiebig am kleinen Teich.
Die Taube blieb, auch über Nacht, und kam am nächsten Morgen durch die offen stehende Tür in die Küche, suchte wohl Futter – bestimmt hatte sie nicht gelernt, sich selbst zu ernähren. Das Federkleid war fahlrot im Tageslicht, ein edles Tier, dem es augenblicklich vielleicht nicht anders erging als einem Marathonläufer nach seinem Lauf.
Ich war gefordert. Ein hungriger Taubenvogel – frisst der auch Haferflocken und Reis? Die Probe zeigte – meine Taube war sehr hungrig, pickte, pickte und pickte... Was jedoch würde morgen sein? Unbedingt wollte ich vermeiden, dass sie Zuflucht bei den gewöhnlichen Stadttauben suchte und auf der Straße leben musste. Umgehend informierte ich den Brieftaubenzüchter im nahe gelegenen Kleingartengebiet. Er kam sehr schnell und holte die Taube ab. Kümmern werde er sich, das versprach mir der Mann. Und mein Versprechen war, vorbeizukommen...
Einige Wochen später fuhr ich zum Züchter, folgte genau seiner Wegbeschreibung: "... zwischen den Hühnerställen hindurch, am Rasen entlang, dann links zum Taubenschlag." Hinterm Schuppen werkelte jemand. Nur flüchtig schaute er zu mir, als ich ihn fand, versuchte – so schien es – sich zu erinnern...
"Ach ja, der Engländer", brummelte er und blickte mich noch einmal kurz an, "bin gleich soweit." Der Engländer? Über mir gurrten Tauben auf dem Dach oder flatterten umher, die meisten jedoch saßen in einer Voliere auf Stangen oder pickten Futter. Manche liefen auch aufgeregt hin und her. In diesem Moment sahen für mich all' diese Brieftauben gleich aus, unterschieden sich nur ein wenig in Farbe und Größe. Kein bleibender Eindruck, wie sich herausstellte. "Kommen Sie", sagte der schnauzbärtige Mann und begann, mich in die Besonderheiten der Brieftaubenzucht einzuweisen. Und je länger er erzählte, desto mehr Fragen stellte ich.
"Auf dem Dach sitzen nur die Täuber", bemerkte er, "die weiblichen Tiere sind alle drinnen." Verbannung? Nein, dies habe mit der Zucht zu tun, erfuhr ich. Nun schauten wir von draußen durch die Scheibe hinein zu den "Weibchen", und ich lernte zur Unterscheidung des Alters ein markantes Merkmal kennen. Der Mann lenkte mein Augenmerk auf die Nasen der Tiere, um die herum ein weißer Wulst zu sehen war. Je größer und dicker, desto älter seien die Tauben – so einfach war's.
Der Züchter hatte Recht mit seiner Bemerkung: ich war interessiert und neugierig – und gespannt auf seine besten Brieftauben. "Rennpferde", nannte er die Preisgekrönten voller Stolz. Dann zeigte er mir die Meisterflieger, die weit gereisten, die tapferen, treuen Vögel. Tausend Kilometer und mehr! Ich glaube, dass ich mit einer gewissen Ehrfurcht vor der Voliere stand.
Und die Gefahren unterwegs? Ist schon eigenartig – ich fühlte mich irgendwie mit verantwortlich für gefährliche elektrische Leitungen und Windräder... Natürliche Feinde wie Raubvögel oder das Wetter seien auch nicht zu unterschätzen, dies alles zu "überleben" sei die große Kunst... Viele Fragen richtete ich an den Mann – er beantwortete sie alle.
Nun war mir klar, weshalb Brieftauben selten ganz weiß sind. "Wegen der Raubvögel", erklärte er mir, "viel zu auffällig, leichte Beute für Sperber und Habicht. Die weißen, das sind die auf den Postkarten."
Wir gingen weiter zu einer anderen Voliere und endlich zu "meiner" Taube. "Sehen Sie, dahinten, das ist er", sagte der Mann, "Hab' ihn Henry genannt." Ein "Er" also. "Und – was ist mit ihm?" "Verirrt. Sein Schlag ist in England." "Woher wissen Sie...?" Ehe ich ausreden konnte, zeigte er auf den Ring am Fuß. "Da steht die Telefonnummer, sehen Sie?" Der Brieftaubensport schien wirklich perfekt zu sein.
Dann lockte er die Taube zu sich, indem er Erdnüsse auf den inneren Sims der großen Glasscheibe legte. Henry flog an, pickte einige Male, und der Mann griff ihn. "Ist's eine gute Taube?" Oh, Henry, hätte ich besser nicht gefragt... Doch so hart fiel das Urteil dann nicht aus, denn der Täuberich habe, wie der Züchter meinte, einen sehr breiten Hinterflügel, den er vor mir ausspannte wie einen Fächer. "Aber..." und mehr als ein verheißungsvolles "aber" sagte der Mann nicht, denn er drehte Henry um, nun war er bäuchlings zu sehen. Ich berührte den kleinen Körper und strich über weiche Federn. "Fühlen Sie", sagte der Züchter und führte meine Hand, "hier ist ein Schönheitsfehler". Den, wenn es ihn gab, wollte ich in diesem Augenblick allerdings weder entdecken noch erfühlen. Und überhaupt – Henry, "der Engländer", war für mich die schönste Brieftaube der Welt. "Inzwischen ist er gut genährt", sagte der Züchter, "sobald es geht, wird er fliegen. Vielleicht schafft er's – manchmal bleiben sie auch..." Noch einmal strich ich Henry übers Gefieder. "Wirst es richtig machen", flüsterte ich ihm zu.
Der Züchter versprach, anzurufen, wenn es soweit ist. Denn – dabei sein wollt' ich schon gern', wenn er Henry übers Meer schickte...
Ursula Lübken-Escherlor lebt in Wilhelmshaven.
Irmgard Manno-Kortz
Tote Taube
- Die Brieftaube hieß Bibi Bongbong.
- ????
- Ja, mit g am Ende. Nicht wie Bonbon, Karamellbonbon oder so. Bong mit g am Ende.
- Und so eine Taube hattet ihr? Das gibt's doch gar nicht.
- Sie durfte natürlich draußen rumfliegen. Dann kam sie immer in unser Zimmer und saß auf dem Kleiderschrank.
- Und hat die Taube da nicht rumgekleckst, ich meine, in dem Zimmer?
- Klar. Wir mussten immer mit dem Lappen hinterher putzen.
- Und die gehörte deinem Mann?
- Meinem ersten Mann, ja. Das war Heiner. Sein Vater hatte die Brieftauben aufgegeben, alle Tiere kamen weg, aber Heiner wollte unbedingt Bibi Bongbong behalten. Du, die konnte sogar Purzelbäume schlagen! Und Heiners Mutter sagte: "Wenn auch alle Tauben wegmüssen, Bibi Bongbong bleibt." Und als Heiner dann anfing zu studieren, nahm er sie mit. Wenn wir zum Wochenende zu seinen Eltern fuhren, saß sie mit uns im Auto. Sie fuhr gern Auto. Überhaupt hat sie immer so witzige Sachen gemacht.
- Was denn für Sachen? Erzähl mal!
- Na, sie hat zum Beispiel..., sagte Sigrun, fing an zu lachen und verschluckte sich fast an ihrem Kaffee.
Wir telefonierten niemals ohne Kaffee. Das wäre gar nicht gegangen bei der Länge der Telefongespräche. Mindestens 45 Minuten, meistens mehr. Und bei der Entfernung von 900 Kilometern waren wir aufs Telefon angewiesen, da fährt man schließlich nicht mal eben so hin.
- Also weißt du, sagte Sigrun, ich schreibe das alles auf. Ein Glück, dass du mir von dem Wettbewerb erzählt hast. Das wird garantiert eine super Geschichte.
- Und du mailst sie mir sofort. Versprochen?
- Versprochen. Aber sie ist ja noch nicht fertig.
Sigrun schrieb, wie sie sagte, die Geschichte von Bibi Bongbong auf und lachte dabei Tränen, aber sie schrieb erst ins Unreine und erklärte mir beim nächsten Anruf, sie müsse den Text überarbeiten.
- Im Moment bin ich noch nicht dazu gekommen. Mir ging es zeitweise nicht so gut. Ich bin jetzt doch oft sehr müde. Und die Punktionen...
- Kochst du eigentlich selber?
- Mittlerweile geh ich meistens essen. Und ich esse tüchtig, damit ich nicht so stark abnehme. Durch das Punktieren verliert der Körper jede Menge Eiweiß, und das muss nach Möglichkeit ersetzt werden. Wie viel Zeit habe ich noch?
- Im Internet stand: Deadline 30. April.
- Also Zeit genug. Ich maile dir die Geschichte, wenn ich fertig bin.
- Sigrun, kannst du meinen Anruf gebrauchen?
- Im Moment nicht so gut. Ich komm gerade von meiner Ärztin. Ich ruf dich zurück, wenn es mir besser geht.
- Sigrun, du hast gar nicht angerufen. Deshalb melde ich mich bei dir. Wie sieht's aus?
- Nicht besonders...
- Hast du in letzter Zeit was geschrieben?
- Hab gar nicht am Computer sitzen können... Ich finde es ganz spannend, so genau mitzuerleben, wie sich das alles abbaut... Die Energie, meine ich... Aber ich bin ganz sicher, dass es ein Weiterleben gibt...
- Meinst du, Sigrun?
- Ich mein das nicht, ich weiß es! Du, sei mir nicht böse, ich muss schlafen... Lass uns morgen telefonieren.
- Sigrun, hast du die Geschichte von Bibi Bongbong fertig? Ich würde sie so gern lesen. Ich will sie auch wohl für dich abschicken, wenn es dir zuviel wird.
- Ich hatte gerade Besuch. Heiner war da mit seiner zweiten Frau. Stell dir vor, sie sind extra zu mir nach Bayern gekommen, um mich noch mal zu sehen!
- Wie lieb! Aber vergiss nicht die Geschichte!
- Wann war noch mal der Termin?
- Im Internet stand: Deadline 30. April.
- Das ist nächste Woche... Ich muss mal sehen. Je nachdem, wie ich mich fühle.
- Versuchs doch! Ich bin so gespannt, und für dich bringt es positive Gedanken, es ist eine schöne Erinnerung, auch an die Zeit mit deinem ersten Mann. Ihr habt euch so geliebt, warum habt ihr euch eigentlich scheiden lassen?
- Eigentlich lieben wir uns noch immer... Wir waren einfach zu jung. Irgendwann ging es mit uns nicht mehr weiter. Aber wir sind immer in Kontakt geblieben. Und mit seiner zweiten Frau verstehe ich mich richtig gut. Ist das nicht seltsam?
- Sigrun, heute ist schon der 14. September. Hast du an die Bibi Bongbong gedacht? Du wolltest die Geschichte doch für mich fertig schreiben, auch wenn der Wettbewerb längst vorbei ist!
- Ja, ich hab's versprochen. Ich hatte die Geschichte fertig. Aber stell dir vor, ich hab sie mir aus Versehen gelöscht. Total gelöscht! Ich weiß natürlich, was drin stand, ich müsste sie neu schreiben...
- Mach doch, das wäre sooo toll! Ich bin neugierig, was du mit ihr alles erlebt hast.
- Ich weiß nicht, ob ich das jetzt schaffe... Ich hab mit Heiner über sie gesprochen, als er mich besucht hat. Er wusste noch genau, wie traurig er war, als sie starb.
- Hat er sie bei der Scheidung behalten? War ja seine.
- Als wir uns scheiden ließen, war sie schon tot. Wir waren alle völlig fertig, als sie starb. Heiners Mutter weinte so und sagte immer: "Ach, die arme Bibi Bongbong!"
Wie Bibi Bongbong gestorben ist, habe ich mir nicht gemerkt. Bis vorige Woche dachte ich, ich brauchte es nicht zu behalten. Sigrun wollte doch ihre Geschichte aufschreiben und mir mailen, und dann hätte ich ja alles schwarz auf weiß. Und nun überlege ich, wie es war. Wurde Bibi vom Auto überfahren? In einer Tür eingeklemmt? Starb sie an Altersschwäche? Oder fiel der Schrank auf sie drauf? Oder wurde sie unheilbar krank?
Bei Sigrun war es Krebs. Ich fuhr die 900 Kilometer hin und besuchte sie schnell in allerletzter Minute, und sie war zu müde, mir von Bibi Bongbong zu erzählen, obwohl das ein passendes Thema gewesen wäre, entsprechend dem, was unser Denken beschäftigte. Traurig und ernst sind Tiergeschichten allemal, denn sie enden immer mit dem Tod des Protagonisten, und deswegen freute ich mich als Kind nicht, wenn ich ein Tierbuch geschenkt bekam – was oft der Fall war, denn Erwachsene haben keine Ahnung aber ich hatte diese Ahnung, dass das Tier am Ende sterben würde, und diese Ahnung erfüllte sich immer.
Immer.
Irmgard Manno-Kortz lebt in Cloppenburg.
Reinhild Paarmann
Abfahrt Bahnhof Zoo Berlin
Auf dem Bahnsteig, wo die Züge ankommen, schmust eine jugendliche Oma mit einem grau melierten Mann. Sie trägt einen Ehering, er nicht. In Berlin hat sie ihre Enkelchen besucht und hier diese Bekanntschaft gemacht. Nun geht es nach Hause zum Ehemann nach Ostend. Da dieser eine Taubenzucht hat, konnte er nicht mitkommen.
Als Kind rutschte ich mal in einem Bassin aus, das voll Taubenkot und Wasser war. Es stand unter einem Taubenschlag in einem Park. Der Gestank!
Im Abteil erzählt ein Bäcker, dass er vor dem Mauerbau in der DDR gelebt hat. Bei einem Besuch in Ost-Berlin verlor er seinen Ausweis. Es sollte eine Woche dauern, bis er einen neuen ausgestellt bekäme. "Und wenn ich in der Zwischenzeit nach West-Berlin gehe?", fragte er den Beamten, denn er hatte keine finanziellen Mittel, diese Woche zu überbrücken. Aber ohne Ausweis erhielt er kein Geld. "Da können wir auch nichts machen", war die lakonische Antwort. So kam der Bäcker nach West-Berlin. Seinen Gesellenbrief vergaß er mitzunehmen. Als er ihn schriftlich bei seinem Wohnort anforderte, teilte man ihm mit, er solle ihn sich holen kommen. Dann hätte er wegen Republikflucht eine Strafe erhalten. Also blieb er in West-Berlin. Auch ohne Gesellenbrief erhielt er eine Arbeit. Er zieht unter dem Sitz einen Quaderstein hervor und zeigt ihn der jugendlichen Oma.
"Mit solchen Steinen baue ich in West-Deutschland. Dieses Muster habe ich mitgenommen, weil ich jetzt rüberfahre, ich habe mir diesen Stein in Berlin ausgesucht, nun bringe ich das Muster zur Baufirma, der ich den Auftrag gebe. Hausbauen muss man überwachen, sonst bauen sie wer weiß was. Natürlich kann ich nicht die ganze Zeit dabei sein, aber wenigstens am Anfang will ich den Bauarbeitern auf die Finger schauen", erklärt er stolz.
Die Oma steht jetzt im Abteil, hält ihre Hand aus dem Fenster und drückt die des Liebhabers. "Ja, ich komme wieder", verspricht sie und strahlt.
Die Ansage aus dem Lautsprecher, der Pfiff, ein Ruck, langsam setzt sich der Zug in Bewegung. Winken, traurige und fröhliche Gesichter, das Rauschen des Zuges, aber der Zug steht ja, nur die Erde schüttelt sich und zieht vorbei, ein Ziehen wie an einem Tau, Leporello-Bilder, Daumenkino...
Ich hänge meinen Kopf aus dem Fenster und höre das Lied von Nana Mouskouri: "... die Augen gesteinigt ..." Nein, es ist nicht kalt. Ich schiebe das Fenster hoch, setze mich auf die gepolsterte Bank.
Eisenbahnfahrten. Und jetzt geht es zu Omas 90. Geburtstag. Meine Oma, auch eine jugendliche Oma, wenn auch ohne Liebhaber. Sie liebt den Mann von Maria, die im Geschäft meiner Tante hilft. "Ich liebe dich. Darf ich dich küssen?", hat sie zu ihm gesagt. Und sie durfte. Meine Oma, die sich voriges Jahr schon in den Liegestuhl auf dem Balkon zum Sterben gelegt hatte. Die Kinder sollten sie nicht tot auf der Couch finden und sagen: "Da ist sie gestorben."
Ringe ab. Ihre Schwester Magda und Mariechen erschienen ihr. Da schrie sie: "Nein, geht weg! Ich will noch nicht sterben."
Eine Taubenzucht hat unser Hotel am Bahnhof von Pulheim. Ein Plakat kündigt eine Taubenzuchtschau an. Meine Mutter erzählt bei der Feier zum 90. Geburtstag der Oma von einer Taube, die bei ihr auf dem Dachfenster saß mit einer Verletzung an der Brust. Sie hat ihr Wasser hingestellt. An den Füßen hatte sie Ringe. Eine Brieftaube. Sie rief bei der angegebenen Telefonnummer an. Der betrogene Ehemann aus Ostend meldete sich. Ehe er kam, war die Taube auf den Balkon der unteren Wohnung geflogen.
Die Nachbarn waren nicht da, nur ihr Sohn Sammy, ein vierjähriges Kind. Er hatte sich wieder mal Mamas Theaterkleider angezogen, denn die Mutter war Operettensängerin. So machte er die Tür auf, der Taubenzüchter kam herein. Die Taube wurde gerettet.
Jetzt fährt die Oma nicht mehr mit der Eisenbahn. Wir fahren zu ihr. Und feiern den 90. Geburtstag, für den der Bäcker schlesischen Streuselkuchen backt.
Auf der Rückfahrt packen wir die Reste des Kuchens aus, kaufen uns Kaffee vom vorbeifahrenden Wagen, es bimmelt, die herbstlichen Bäume rasen vorbei, die Felder sind fast abgeerntet, Nebel, die schrecklichen Schlote der Fabriken, es lohnt sich nicht, hinauszusehen, ich lese lieber eine Eisenbahngeschichte von Zola.
Zwischenaufenthalt in Köln. Der Dom sieht aus wie aus Stalaktiten und Stalagmiten zusammengesetzt.
An Magdeburg vorbei, wo wir einmal beim Roten Kreuz übernachten mussten, weil wir den Anschlusszug von Blankenburg nach Berlin nicht mehr bekamen. Und kein bezahlbares Hotel frei in Magdeburg. Das Interhotel, Devisenhotel, kostet 400 DM für eine Nacht. Soviel Geld hatten wir nicht mit. Und selbst wenn wir so viel Geld dabei gehabt hätten, wäre es uns zu schade gewesen, dieses dafür auszugeben. In jener Nacht beim Roten Kreuz auf dem Bahnhof von Magdeburg wackelten die Betten bei jedem vorbeifahrenden Zug. Ich dachte viel an Zola.
Wie viele Abfahrten es noch vom Bahnhof Zoo geben wird? Ob meine Oma auch einmal schmusend mit einem grau melierten Mann auf dem Bahnhof Zoo stehen wird? Opa ist schon lange tot. Ob sie einmal mit der Eisenbahn fährt und den Bäcker ihres Streuselkuchens trifft? Ob sein Haus unterdessen fertig ist? Und die Oma fährt ab vom Bahnhof Zoo. Zu ihrem Mann nach Ostend. Der Mann passt auf die Tauben auf, eine davon wird sich bei meiner Mutter verirren...
Reinhild Paarmann lebt in Berlin.
Nina Steinhauer
Elsbeth
Seit fast sechzig Jahren hat mein Opa Tauben. Seit ich ihn kenne, galt es jeden Samstag auf die Tauben zu warten, die vom Preisflug nach Hause kamen. Ich lernte, den Kleinen Ringe aufzuziehen und sie richtig zu greifen. Auf dem Weg zum Taubeneinsetzen erzählte mein Opa mir von seinen Taubenabenteuern. Manche reichten bis in die fünfziger Jahre zurück, als er seine ersten Tauben hatte, und davon berichtet auch diese Geschichte.
Die gute Elsbeth sollte ein kleines Vermögen kosten. Zumindest war es ein Vermögen für einen kleinen Jungen, Anfang der fünfziger Jahre. Aber dennoch wollte er die Elsbeth unbedingt für sich haben, hatte er doch schon seit Jahren die Tauben der ansässigen Züchter bewundert, wie sie stolz am Himmel ihre Bahnen drehten.
Zum Glück bot sich da eine einmalige Gelegenheit. Der Besitzer von Elsbeth war bereit, ihm die Taube zu geben, wenn er ihm bei der Gartenarbeit helfen würde. Tagelang, sogar wochenlang lief er jeden Tag nach der Schule zu dem Taubenzüchter und half ihm bis spät abends den Garten umzugraben.
Eines Tages bekam er endlich die Brieftaube, in einem kleinen Karton sitzend, überreicht. Stolz wie nie zuvor lief er nach Hause, wo seine Eltern ihm bereits eine kleine Voliere aus den Materialien, die ihnen zur Verfügung standen, gebaut hatten. Freudig präsentierte er ihnen, seinen sechs Geschwistern und seiner Oma, die Elsbeth als die schönste und schnellste Brieftaube auf der ganzen Welt. Am liebsten hätte er in der Nacht neben der Voliere im Garten geschlafen, nur um auf seine Elsbeth aufzupassen, und als er am nächsten Morgen zu der Taube kam, war die Überraschung groß, eine zweite Taube saß an ihrer Seite, hatten seine Eltern doch einen Gefährten für Elsbeth organisiert. Voller Freude fütterte er die beiden und stellte ihnen frisches Wasser in die Voliere, bevor er zur Schule aufbrach.
In den nächsten Wochen verbrachte er seine ganze Freizeit mit den beiden Tauben, ließ sie fliegen und wieder zu ihm zurückkommen, fragte die Taubenzüchter um Rat, wenn er einmal nicht weiterwusste, und träumte davon, eines Tages so viele schöne Tauben zu haben wie die erwachsenen Taubenzüchter. Dafür hatte die Familie zu der Zeit kein Geld, selbst die älteren Kinder gingen arbeiten, um die Eltern zu unterstützen, und eigentlich war es ein kleines Wunder, dass Elsbeth und Fridolin bei ihnen wohnen durften. So vergingen die Wochen, bis es schließlich Winter wurde, während die beiden Tauben die ganze Familie erheiterten und besonders den kleinen ambitionierten Jungen, der einmal ein Taubenzüchter werden will.
Doch dann geschah es. Am ersten Advent verließ er früh am Morgen das Haus, um nach seinen beiden Lieblingen zu sehen. Fridolin blickte ihm munter entgegen, doch Elsbeth war verschwunden. Panisch rannte er ins Haus zurück und rief nach seinen Eltern. "Elsbeth ist verschwunden, Elsbeth ist weg!", kreischte er, bis schließlich die ganze Familie um ihn herum versammelt war. Sie fragten ihn, ob er nicht vielleicht unachtsam gewesen war und die Tür aufgelassen hatte. Doch er beteuerte mit Tränen in den Augen, dass nichts dergleichen geschehen war. An die Möglichkeit, dass ein Marder oder Ähnliches die Elsbeth geholt hatte, wollte niemand denken, hatte das kleine Tier der ganzen Familie doch so viel Freude bereitet.
Somit begann die Suche nach Elsbeth. Man fragte bei den Taubenzüchtern in der Stadt nach, ob sie eine fremde Taube unter ihren gefunden hatten. Man suchte das ganze Grundstück ab, bis die Dunkelheit hereinbrach. Dennoch keine einzige Spur von Elsbeth. Langsam begann der kleine Junge alle Hoffnung aufzugeben, Elsbeth zu finden.
Abends saß man betreten am Küchentisch und überlegte, was man tun sollte. Auch um Fridolin machte man sich Gedanken, konnte dieser doch nicht alleine bleiben. Aber für eine weitere Taube fehlte der Familie das Geld. Die Familie war froh gewesen, dass man eine kleine Zuckertüte und ein paar Kerzen zum ersten Advent hatte kaufen können.
Bedrückt sah die Familie auf ihren kleinen Taubenzüchter. Man konnte ihm doch jetzt, gerade in der Weihnachtszeit, seinen Fridolin nicht auch noch nehmen, wo die Elsbeth schon verschwunden war. Was würde das für ein Weihnachtsfest geben? Nun saß er einfach da, den Kopf auf die Hände gestützt, und Tränen tropften auf den alten Küchentisch. Es herrschte Stille, keiner wagte etwas zu sagen.
Plötzlich polterte es laut. Die Familie schreckte auf. Es polterte ein zweites Mal. "Das ist das alte Ofenrohr im Nebenzimmer." Sagte seine Oma. Hastig sprangen sie auf und liefen hinüber. Sein Vater öffnete das alte Ofenrohr, und gerade als er hineinsehen wollte, kam ihm laut polternd die Elsbeth entgegen und fiel ihm in die Arme. Sie war zwar etwas schmuddelig, aber ansonsten wohlauf. Das war der schönste Advent, den die Familie seit langer Zeit erlebt hatte.
Nina Steinhauer lebt in Wallerfangen.
Marko Stiebritz
Öffnet den Schlag und holt den Tierschutz!
Ich habe einen Dachschaden, einen an der Klatsche, oder auch einen so genannten "Schlag", einen bescheuerten nächtlichen Taubenschlag. Und dann reden manche von der Verschmustheit und Verspieltheit der Brieftaube; so ein Scheißdreck! Und von wegen Rennpferd der Lüfte... Sie heißt Rennpferd des kleinen Mannes! Verstanden?!
In meiner Ommel stimmt's nicht, deswegen habe ich hier ein Zimmer bekommen. Sie kommen mich nachts besuchen, diese Mistviecher, und gurren mir die Hucke voll; scheißen mir ins Bett und singen Friedenslieder. Die anderen, die grünen Tauben, scheißen auch grüne Häuflein und tragen stets Post mit sich herum; wer soll das also aushalten? Von wegen Brieftaube... das sind Baker-Fruchttauben und Perlhalstauben, Columbinas und Luzon-Dolchstichtauben, orientierungslos weil überzüchtet; verstanden?!
Aber sie schmecken, das muss man ihnen lassen; diese dämlichen Tauben schmecken! Wenn sie so vor einem liegen, ohne Kopf, ohne Federn, knusprig und braun, duftend... Ich habe meinem Nachbarn damals den ganzen Sporttauben-Schlag leer gefressen, jawohl, und dann bin ich für ein paar Wochen abgegangen; aber noch nicht in die Geschlossene.
Wenn ich mit meiner Mutter in der Stadt war, früher, dann bin ich den Tauben auf dem Marktplatz immer hinterher gejagt und habe sie aufgescheucht; am besten in dem Moment, wenn sie gerade auf einer alten Oma steckten und aus ihrer Hand fraßen; dann sind die Tauben aufgegangen und haben der Alten den Hut vom Kopf gerissen und ihr die Frisur zermatscht, ja, die haben der Alten den Dutt kaputt geflogen! Bei meinem Vater durfte ich das nicht, dem war das peinlich, wenn ich Tauben bespuckte; aber schließlich scheißen die uns ja auch auf die Denkmäler, und dem Adenauer aus Bronze haben sie sogar mit Windes Hilfe in die Augenhöhle geschissen! Jawohl, das haben sie!
Heute mach ich das nicht mehr, weil ich nur noch einmal in siebenundvierzig Jahren auf den Marktplatz komme; ich bin jetzt Siebenunddreißig.
Die Pflegerinnen verstehen mich; sie sehen sogar die Tauben, die mich nachts besuchen und mir Post bringen, Friedenslieder singen und mir ins Bett scheißen. Ich bin mir sowieso sicher, dass das Personal hier aus verzauberten Tauben besteht: die eine Pflegekraft sieht original aus wie ein Kordillerentäubchen und der Stationshelfer wie eine aufgeblasene Schuppenhalstaube.
Aber wieso erzähle ich das überhaupt, das ist doch alles wurscht!
Marko Stiebritz lebt in Landshut.
Peter Suska-Zerbes
Geheimnisvoller Fremder
"Und wie werde ich Sie erkennen? ... Ah, dunkler Mantel, Zeitung in der linken Hand. Gut... Dann bis halb Vier... Aufgelegt!"
Bastien Chambon betrachtete fragend den Hörer. Keine gute Idee, sein Schicksal von einem Fremden abhängig zu machen, von dem er kaum mehr wusste als den Namen: Antoine Dupont.
Selbst wenn es sein richtiger Name war, woran Bastien nicht ohne Grund zweifelte, würden wahrscheinlich eine halbe Million Franzosen hier unten in Südfrankreich so heißen.
Andererseits, viele Alternativen hatte Bastien nicht. Am Telefon klang der Mann sehr selbstsicher, machte gleich klar, dass das nicht billig sein würde.
Irgendwie hatte sich Bastien dies ganz anders vorgestellt. Das war alles neu für ihn, schließlich verdiente er sein Geld als Anwalt in einer großräumigen Kanzlei, wenn man einmal von diversen Nebeneinkünften absah. Seine Taubenzucht machte sich auf jeden Fall bezahlt...
Geld war kein Problem. Auf Schweizer Konten hatte er ausreichend Geld am Finanzamt vorbeigebracht. Natürlich war er bereit, dafür gut zu bezahlen. Hauptsache, es führte später keine Spur zu ihm.
Bereits eine halbe Stunde früher fand sich der windige Anwalt im vereinbarten Bistro ein, in dem er noch nie vorher war. Es war unwahrscheinlich, dass ihn hier jemand erkennen würde. Er wählte einen strategisch günstigen Platz, von dem er sowohl die Tür als auch die Straße im Auge hatte. Wenn er etwas Verdächtiges bemerken würde, dann würde er sich gleich aus dem Staub machen.
Vom Wirt ließ er sich einen Café au lait und ein Journal bringen, aber keiner der Besucher, der auch nur annähernd auf die Beschreibung von Antoine Dupont passte, kam in den nächsten zwei Stunden. Nach der dritten Tasse Kaffee warf Bastien wütend die Zeitung auf den Tisch und ging hinüber zur Theke, um seine Zeche zu begleichen.
Der dicke Wirt zwinkerte ihm zu: "Ein Bekannter würde gern ein paar Worte mit Ihnen wechseln."
"Monsieur Antoi... ?"
"Monsieur, keine Namen, s'il vous plaît... Da entlang!" Er wies mit einem wurstigen Finger auf eine Tür hinter der Theke.
Für Bedenken war es längst zu spät. Ergeben zuckte der Anwalt die Schultern und ging durch die Tür. Er kam in eine Küche, die wohl schon vor zwanzig Jahren eine gründliche Renovierung gebraucht hätte. Ein Koch mit hoher Mütze war über ein paar Pfannen und Töpfe gebeugt, schien Bastien nicht zu bemerken.
Entschlossen schritt Bastien zur gegenüberliegenden Tür, schaute kurz hinaus.
Niemand weit und breit, niemand außer diesem Koch...
Plötzlich fühlte Bastien etwas Hartes zwischen seinen Rippen.
"Monsieur Chambon, wenn ich Sie wäre, würde ich mich jetzt nicht umdrehen."
Ein kalter Schauer lief über Bastiens Rücken. "Wo... woher wissen Sie meinen Namen?"
"Seien Sie still! Wenn ich mich so amateurhaft wie Sie anstellen würde, dann wäre ich schon vor zehn Jahren hinter Gittern gelandet."
Bastien hüstelte: "Niemand weiß ..."
"... dass Ihr Lebenspartner in Amsterdam einen Jüngeren gefunden hat?"
"Wer hat Ihnen das gesagt?", fragte Bastien mit trockener Stimme.
"Nicht umdrehen, habe ich gesagt! Hören Sie gut zu, Monsieur Chambon! Es war kein Problem, Ihren richtigen Namen herauszufinden, und wenn ich erst einen Namen habe, dann finde ich schnell alles andere heraus. Vor allem, wenn es sich um einen der besten Taubenzüchter Südfrankreichs handelt."
"Wieso...?"
"Man will doch wissen, mit wem man zusammenarbeitet, nicht wahr?"
"Sie können mir nichts beweisen."
"Aber, aber Chambon, Diamanten nach Holland, und von dort ein kleines Päckchen mit teurem Stoff wieder zurück. Super Schmuggelidee. Warum denn so nervös? Bleibt ganz unter uns."
"Wie? Das wissen Sie auch?"
"Aber sicher, Chambon. Was denken Sie? Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe bereits einen vortrefflichen Plan." Der Mann benutzte das Wort 'fantastique'.
"Beim nächsten Termin bekommt Ihr Freund statt der Diamanten ein wenig ... Sprengstoff."
"Sie meinen wirklich, das funktioniert?"
"Sicher. Es gibt da hochexplosives Material – da genügen ein paar Gramm. Kein Problem!" Bastien konnte fühlen, dass der Mann hinter ihm breit grinste.
"Wie... wieviel?"
"Zweihunderttausend. Dafür sorge ich für den Rest... Eines Tages macht Ihr untreuer Freund das kleine Kästchen auf der Taube auf: wummm und adieu. Für immer!"
"Die Polizei wird mich im Verdacht haben."
"Aber nein, Monsieur Chambon. Glücklicherweise tauschen Ihr Lebensgefährte und sein neuer Freund ebenfalls ständig Tauben aus. Ich besorge mir eine von ihm, die dann ihren Weg nach Amsterdam zurückfindet."
"Das könnte wirklich gehen."
"Sicher... Sobald ich das Geld habe..."
"Und wie erfahre ich, dass die Taube unterwegs ist? Ich meine, nicht dass der Sprengstoff gerade ankommt, wenn ich dort zu Besuch bin."
"Die öffentlichen Kommunikationsmittel sind viel zu gefährlich. Wie wäre es mit einer Ihrer Tauben?"
Bastien nickte.
Viel konnte da nicht schieflaufen...
Zwölf Tage später explodierte ein Taubenschlag.
Das einzige Opfer, sieht man einmal von einer Handvoll Zuchttauben ab, war ... Monsieur Bastien Chambon.
Tags zuvor zeigte sich der Freund in Holland erstaunt, dass statt der Diamanten nur eine kurze Nachricht beilag: "Taube im Anflug."
Die französische Polizei fand nie heraus, dass ein weltweit gesuchter Killer zwei Tauben verwechselte und die falsche mit dem Sprengstoff losschickte.
An der Cote d'Azur zuckte Antoine nur die Achseln, als er von seinem Missgeschick in der Zeitung las. "Ich sag ja immer: Sie sehen alle gleich aus."
Peter Suska-Zerbes lebt in Kaufbeuren.
Karin Weidner
Brieftauben 1
Ein romantischer Jüngling aus Haid
schickt Brieftauben zu seiner Maid
doch sie bleibt still
weil sie ihn nicht will
die Tauben, sie teilen sein Leid
Brieftauben 2
Den Brieftaubenzüchter aus Zost
verließen die Tauben im Frost
flogen weit fort
an wärmeren Ort
jetzt schickt er die Briefe per Post
Karin Weidner lebt in Wien.
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Und nun viel Spaß mit den Brieftaubengeschichten!