Brieftaubengeschichten 2012
Vorwort
66 Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Österreich, Frankreich, der Schweiz und den USA haben sich an unserem diesjährigen Schreibwettbewerb beteiligt. Wie schon in den Jahren zuvor ist uns auch dieses Mal die Entscheidung nicht leichtgefallen: Gut geschrieben sollten die Texte sein und von Brieftauben handeln.
Zur Erinnerung: Brieftauben kann man nicht an fremde Orte schicken – lässt man sie auf, fliegen sie nach Hause. Das war ein Grund, warum einige eingereichte Texte hier nicht veröffentlicht werden konnten. Ein anderer: manchem Beitrag hätte ein nochmaliges Korrekturlesen gutgetan. Das war besonders schade in den Fällen, in denen die Verfasser/innen wirklich gute Einfälle hatten.
Wenn von Flugleistungen der Tiere die Rede war, haben wir auf Plausibilität geachtet: Können Tauben die beschriebenen Strecken überhaupt bewältigen?
Am Ende haben wir uns für 16 Texte entschieden: Heitere, nachdenkliche und märchenhafte Kurzgeschichten und Gedichte. Dass diese Auswahl immer subjektiv ist, liegt in der Natur solcher Wettbewerbe.
Nicht drei, sondern vier Texte wurden als Brettspiel-Gewinner ausgewählt, weil wir finden, dass jeder auf seine Art preiswürdig ist.
Die Erzählung "Die Fremde" von Judith Renz ragt jedoch heraus und ist darum unsere Gesamtsiegerin des Wettbewerbs: Mit feinem Humor und überraschender Beobachtungsgabe macht die Autorin die Unterschiede zwischen Stadt- und Brieftauben zum Thema ihrer kurzweiligen Geschichte, die einen unweigerlich in ihren Bann zieht: geschrieben in einem erfrischend neuen Ton von überzeugender literarischer Qualität. Für Judith Renz werden wir – als Extra-Preis – ein E-Book aus ihren eigenen Texten erstellen.
Judith Renz
Die Fremde
Dort, in der engen Gasse, wo die Pflastersteine am holprigsten sind, hüpft eine Fremde herbei, fremder als alle Tauben, die ihnen je begegnet sind. Es ist eine Taube, es muss eine sein, aber keine wie sie, weil dick und fremd das Gefieder. Sie trägt bunte Ringe, bemerkt eine junge Taube. Sie hat sich erwischen lassen, verheißt eine weitere, eine Hexe, murren die anderen. Eine Göttin, gurrt ein junger Täuberich schwärmend. Einfach nur eine andere Taubenart, im Dienst der Menschen, rollt wieder die eine, die sich für gelehrt hält. Die Fremde scharrt übers Pflaster, guckt wohl sehnsüchtig, wirkt fremd und daher verloren. Bis endlich ein Anführer krakeelt: Was tust du hier, wir sind hier genug, geh zurück in dein Revier. Die fremde Taube wackelt mit dem Kopf, ruckediguu.
Der junge, aufmüpfige Täuberich hat Mitleid, aber wahrscheinlich ist es mehr, eine Göttin, das hat er gesagt, es ist ihnen nicht entgangen. Lass sie doch, sie pickt doch nicht, seht nur, sie pickt nicht. Neugierig stakst er näher heran, ihr hellbraunes Gefieder wie Schnee, wenn er sich jung mit dem Grau der Pflastersteine verbindet. Du pickst nicht, richtig, du pickst nicht, richtig, du guckst nur, guckst nur, ruckediguu. Er nähert sich ihr erhobenen Hauptes. Aufgepflustert, aufgepflustert, aufgepflustert, raunen sich die Damen erregt zu, sieh nur, sieh nur, sieh nur. Die fremde Taube ergreift die Flucht, rennt auf dem Pflaster im Kreis herum. Gebannt sehen sie zu, vergessen zu picken und zu wackeln. Menschen sind stehen geblieben, sie haben die Fremde, die Schöne, Beringte gesehen.
Ein Menschenkind, die sind manchmal schlecht, wenn sie uns jagen. Dieses ist gut, gut für Futter, die ausgewachsene Mutter lässt sich von ihm erweichen, wie der Täuberich vom schönen Gefieder der fremden, dicken Taube. Ein Tag auf dem Pflaster, dann ist sie so grau wie wir, ruckediguut eine Taubendame, andere stimmen eifrig zu, während man sich zu dem Kind stürzt, pick, pick, pick, weg da, pick, pick, pick. Das Menschenkind hat es auf die fremde Taube abgesehen, es läuft ihr hinterher, wirft Brotkrümel nach ihr, trifft nicht. Sie hat Ringe, sie hat sich verflogen, nicht die Hässlichen, kreischt die Mutter. Menschen haben keinen Verstand, die Mutter zieht das Kind weg, die Brottüte fällt ihm herunter. Das Kind will sich bücken, aber die Mutter zieht es weiter.
Was für eine Verschwendung, brummt nun ein alter Mensch kopfschüttelnd, bückt sich nach der Tüte, wirft sie in den Mülleimer. Was für eine Verschwendung, schimpfen die Tauben. Ich fliege weiter, guruut die fremde, schöne, dicke Taube da plötzlich. Wohin willst du, wohin willst du, wohin fliegst du, ruft der junge Täuberich ihr zu, fremde Taube, dicke Taube, schöne Taube. Ich fliege weiter, weiter, weiter, schnurrt sie, ich muss weiter, mich erwarten meine Tauben, mein Mensch, gutes Futter. Gutes Futter, mein Mensch, meine Tauben, es klingt vielversprechend, die Tauben haben aufgehorcht, denn Menschen versprechen Futter, sie verfügen darüber. Wenn sie uns zugetan sind, werfen sie es uns zu, wenn sie achtlos sind, verlieren sie es und es fällt in die tiefen Ritze der Pflastersteine.
Wo ist das, wo ist das, wo ist das, wollen sie aufgebracht wissen, aber nun ist es an der fremden Taube, sich von ihnen abzuwenden, Kopf wackelnd, vielleicht ist sie nicht so fremd, vielleicht weiß sie nur mehr. Ich muss weiter, weiter, weiter, ruckedigurrt sie wissend, flattert auf, landet nicht auf einer Mauer, nicht auf einem Hausdach, nicht auf einem Sims der Kirche, sie fliegt höher und weiter. Wohin, wohin, wohin, gurrt der junge Täuberich, wohin, wohin, wohin, fallen die anderen Tauben ein, jetzt auch sehnsüchtig, hoch am Himmel sehen sie die Schöne, Dicke, Fremde flattern. Sie hätte bleiben können, hätte ihnen erzählen können von ihrem Menschen, davon, wie sie es schaffte, ihn zu zähmen. Dann sehen sie sie nicht mehr, sie ist weg, auf und davon geflogen.
Es war einmal eine Taube, erzählt nun eine alte Taube, sie wohnte weit, weit weg bei einem Menschen, sie hatte ihn gezähmt, es war ihr Mensch, er gehörte ihr, er gehorchte ihr. Er gab ihr Futter, wann immer sie wollte, wann immer sie kam, gab er ihr Futter. Sie war eine Königin, eine Göttin, sie hatte das schönste Gefieder von allen Tauben, sie trug bunte Ringe, silberne, goldene. Wo, wo, wo, ruckediguuten die jungen Tauben.
Aber die anderen, bis auf den jungen Täuberich, hatten sich schon wieder daran gemacht, zu picken in den Pflasterritzen, warum darüber nachdenken, wenn die Krumen vor unseren Krallen liegen.
Judith Renz lebt in Ludwigsburg.
Kurt Ehrendorfer
Das Experiment
Bernd sah auf die Uhr, bald musste es losgehen. Der Laptop war startklar, das Handy lag bereit. Jeden Augenblick würde Horst anrufen.
"Ich gehe eine Runde spazieren", sagte Laura.
Bernd fuhr aus seinen Gedanken hoch. "Zum Bach hinunter?"
"Ja." Laura wiegte sich in den Hüften, eine Angewohnheit, die sie im Laufe der Schwangerschaft entwickelt hatte.
"Vielleicht siehst du die Tauben", sagte Bernd. "Sie müssten bei der kleinen Brücke vorbeikommen. Horst lässt sie demnächst vom Waldparkplatz starten."
Lauras kugeliger Bauch berührte das aufgeklappte Notebook. Bernd zog den Bildschirm näher zu sich heran.
"Brauchst du noch etwas?", fragte er.
"Das Baby gibt wieder Fußtritte." Sie nahm Bernds Hand und legte sie auf ihren Bauch. "Spürst du es?"
Das Handy läutete. Bernd zog die Hand zurück und griff zum Telefon.
"Hallo?" Das war Horst, ein wenig außer Atem.
"Wie ist die Lage?", fragte Bernd.
"Ich bin da", sagte Horst. "Hilde ist schon aus der Box. Braves Täubchen. Möchtest du deinem Chef etwas gurren? Ich halte sie mal zum Telefon."
Eine kleine Pause, dann wieder Horsts Stimme: "Sie ist wohl nicht in Plauderstimmung. Hab ich recht, Hilde? Ein bisschen nervös. Kann ich dir nicht verdenken. Jetzt muss nur noch...", er ächzte, "...die Kamera ins Brustgeschirr."
Die Videokamera war ein Leichtgewicht von der Größe eines Lippenstifts. Bernd hatte sie in einem Internet-Shop unter der Rubrik 'Spionagezubehör' gekauft. Aus Draht und Klebeband hatte er eine Halterung gebastelt, in der die Kamera an Hildes Brust schräg nach unten gerichtet angebracht war.
"Okay, die Kamera ist montiert", sagte Horst. "Und eingeschaltet. Hast du ein Bild?"
Bernd klickte auf den Start-Button des Programms, das über Funk das Video-Signal empfing.
"Perfekt", sagte Bernd. "Ich sehe deine Füße."
"Ich halte sie mal in die Höhe", sagte Horst. Sein grinsendes Gesicht schob sich ins Bild, vom Weitwinkelobjektiv zu einem Oval verzerrt. Von einem Ohr baumelte das Kabel der Telefon-Freisprecheinrichtung.
"Okay", sagte Horst. "Ich lass sie fliegen."
Das Kamerabild machte Sprünge, ruckte mit jedem Flügelschlag, der Parkplatz wackelte hin und her, in der Mitte Horst, der sich an der Box zu schaffen machte und zusehends kleiner wurde. Die nächste Taube zwängte sich ins Freie, und die nächste ruderte mit den Flügeln und gewann an Höhe.
"Sie sind draußen!", rief Horst.
Im nächsten Augenblick war er vom Bildschirm verschwunden, Hilde war über dem Wald, die Wipfel der Fichten glitten unter ihr hinweg, das Bild wurde ruhiger.
"Gehen wir auf ein Bier?", fragte Horst.
"Machen wir."
"Die Tauben werden vor mir da sein. Wie üblich. Tschüss."
Die Telefonverbindung brach ab.
Bernd lehnte sich zurück und schloss die Augen. Es hatte geklappt, die Mühen der vergangenen Wochen trugen Früchte. Aus dem Computermikrofon rauschten Hildes Flügelschlag und der Flugwind. Die Vereinskollegen würden Augen machen, wenn sie die Aufnahme sähen. Neil Armstrong auf dem Mond war nichts dagegen.
Hilde erreichte die Felder vor der Stadt. Der Raps stand in voller Blüte. Ob die Tiere noch gemeinsam flogen, war nicht zu erkennen. Beim nächsten Versuch musste die Kamera so montiert werden, dass sie auf der Höhe des Schwarms filmte, um deren Flugverhalten aufzuzeichnen.
Der Bach kam ins Bild und der Steg über dem Bach. Auf dem Steg stand eine Frau, die ihren kugeligen Bauch an dem Geländer abstützte. Hilde hielt direkt auf sie zu. Gleich würde sie landen. Hatte sie ihr Frauchen erkannt? Noch zwei Meter. Laura richtete sich auf, schaute direkt in die Kamera; die schwenkte auf den Bach, fuhr wieder herum, auf den Steg, auf Lauras Beine. Hilde hatte sich auf dem Geländer niedergelassen, das Klackern ihrer Trippelschritte war zu hören.
Bernd beendete die Aufnahme. Er kaute auf den Lippen, während das Empfangs-Programm den Film fertig abspeicherte. Dann zog er den Schieber am unteren Rand des Fensters zurück, ließ den Film bis kurz vor Hildes Landung laufen und drückte auf Stopp. Das Standbild war verschwommen, Lauras Blick ging ins Leere, Tränen auf ihren Wangen, zu Eistropfen erstarrt.
Bernd lief in den Flur und schnappte sich die Motorradschlüssel. Wie lange schon hatte er alles vergessen, Laura, das Baby, und sich nur in den idiotischen Film verrannt?
Als er auf der Straße war, sah er die Vögel im Anflug auf den Taubenschlag. Hilde war nicht dabei. Die treue Hilde. Er drehte den Zündschlüssel im Schloss und trat das Startpedal durch. Nur schnell zu Laura und dem Kind, das mit seinen Füßchen das wohlige Dunkel vermaß, in dem es schwamm.
Kurt Ehrendorfer lebt in Wien.
Wolfgang Faubel
Brieftauben?
"Sagen Sie mal, was ist denn das für ein seltsamer Lastwagen?", frage ich den älteren Mann, der daneben steht.
"Mit dem transportieren wir die Brieftauben zu einem festgelegten Punkt und lassen dann die Tauben auf", erklärt er mir.
"Sie schlachten die Tiere hier?", frage ich entsetzt.
"Blödsinn", beruhigt mich der Mann, "Auflassen heißt, die Tauben starten lassen." Im selben Moment klappen die seitlichen Bretter des Lasteraufbaus nach vorne, und hunderte Tauben sausen über mich hinweg.
"Wo fliegen die denn hin?", frage ich.
"Na zu ihren heimischen Schlägen, wir haben doch Wettbewerb."
"Man schlägt die Tauben zuhause? Warum das denn?" Der Mann sieht mich an, als käme ich von einem anderen Stern.
"Niemand schlägt sie. Haben Sie noch nie etwas von einem Taubenschlag gehört." Nö, aber das behalte ich lieber für mich und deute stattdessen auf zwei Tauben, die auf dem Lasterdach gelandet sind.
"Warum fliegen die denn nicht fort, wohnen die in dem Lasterschlag?"
Der Taubenmann scheint leicht genervt zu sein. "Die orientieren sich noch", antwortet er leicht angesäuert.
"Ohne Karte oder Navi?", frage ich.
"Die Brieftauben orientieren sich am Magnetfeld der Erde und nach der Sonne."
Ich sehe weder Sonne noch irgendwelche Briefe.
"Könnte es sein, dass die beiden keine Briefe zum Ausliefern haben?", hake ich vorsichtig nach.
"Es sind zwar Brieftauben, aber sie liefern keine Post aus. Sondern die Taube, die zuerst im heimischen Schlag ankommt, hat gewonnen. Das kann doch nicht so schwer zu verstehen sein."
"Aber Briefe könnten die doch ausliefern, oder?"
"Keine Briefe. Früher hat man ihnen kleine Metallkapseln mit einem Papierstreifen an einen der Füße gebunden." Ich schaue mir die beiden Tauben genauer an und entdecke jeweils einen Ring an den Beinen.
"Aber die beiden liefern nur eine SMS aus."
"Nein", kommt es schon fast weinerlich von dem Mann," da steht nur der Zahlencode des Züchters und auf dem anderen Ring seine Telefonnummer." Aha, denke ich mir. Wenn die keine Lust haben zu fliegen, rufen die einfach zuhause an und lassen sich abholen. Ganz schön schlau.
"Aber die Post könnten die Tauben doch auch heute noch ausliefern, oder?"
"Ja, das können die auch", antwortet der Mann erleichtert.
"Also bräuchte ich nur so ein Metallröhrchen mit Papierstreifen. Aber wo schreibe ich die Adresse hin, oder reicht es, wenn ich sie der Taube einfach sage?"
Die Erleichterung des Mannes schlägt nun um in schiere Verzweiflung. "Die Taube fliegt nur zu ihrem Heimatschlag zurück. Man kann ihr keine Adresse sagen, wo sie hinfliegen soll. Haben Sie das endlich verstanden?"
Ich nicke beschwichtigend mit dem Kopf und betrachte mir die beiden Tauben etwas näher. Der Mann drückt währenddessen die Bretter wieder zurück.
"Entschuldigung, äh...", weiter komme ich nicht. Der Mann wirbelt herum und schreit: "Und Einschreiben mit Rückantwort stellen die auch nicht zu!"
Irgendwie macht der Umgang mit Tauben ganz schön aggressiv?
Wolfgang Faubel lebt in Waldalgesheim.
Ann-Kathrin Walz
Die Frau im Park
"Wissen Sie", wendet sich die Frau an das Mädchen, das neben ihr auf der grün gestrichenen Parkbank sitzt, "Als wir noch jung waren, hat man meinen Mann und mich im Dorf nur 'die Turteltauben' genannt."
Ein Lächeln breitet sich auf dem runzeligen Gesicht der alten Dame aus, als sie den Tauben ein paar Brotkrumen hinwirft. Wild flattern sie herbei und picken mit flinken Schnäbeln die Krumen zwischen den bunten Herbstblättern hervor. "Er hat schon damals von einer eigenen Zucht geträumt. Als wir dann verheiratet waren, hat er sich diesen Traum erfüllt. Jetzt züchtet er Tauben. Richtige Tauben, solche, die früher kleine Nachrichten überbracht haben. Wie heißen sie noch gleich?" Sie fährt sich mit der freien Hand durch die kurzen weißen Locken.
"Brieftauben", sagt das Mädchen hilfsbereit, und die Frau nickt zustimmend.
"Anfangs konnte ich sie nicht leiden. Aber ich liebe meinen Mann, also lernte ich zwangsläufig auch die Tauben lieben. Sie sehen so ähnlich aus wie diese", fährt die Alte fort und steckt ihre Hand in die Bäckertüte, um die Tauben mit einer weiteren Portion Krümel zu füttern. "Aber sie sind nicht so zerrupft. Und viel sauberer. Und wohlgenährter. Mein Mann füttert sie leidenschaftlich gerne. Mehrere große Eimer voll verschiedener Futtermischungen hat er in der Garage stehen."
Sie lacht. "Jedes unserer Kinder kann nicht widerstehen, dort bis zu den Ellbogen einzutauchen. Und meine Enkelin erst! Sie liebt es, vom Gurren geweckt zu werden. Das Erste, was mein Mann ihr beigebracht hat, war, dass die Brieftauben immer den Heimweg finden. Immer. Ist das nicht erstaunlich?"
Die junge Frau nickt.
"Das Kind behauptet steif und fest, dass die kleinen weißen Nasenlöcher in Wirklichkeit kleine Lesebrillen seien, mit denen die Täubchen unterwegs Straßenschilder und Landkarten lesen. Anders kann sie es sich nicht erklären. Wenn mein Mann seine Lieblinge auf eine Reise schickt, wartet sie jedes Mal gespannt vor dem Taubenschlag, bis jede einzelne Taube wieder da ist."
Die alte Frau reicht ihrer Nachbarin die Tüte, sodass auch sie helle Brösel auf den Boden hinabregen lassen kann. Lautes Gurren, Federn fliegen, dann verschwinden die Brocken in den Kröpfen. "Auf diese Weise wurde verhindert, dass Hänsel und Gretel den Rückweg finden...", flüstert die Alte nachdenklich. "Kennen Sie das Märchen, in dem die Tauben die Linsen aus der Asche lesen?"
"Aschenputtel. Das ist mein Lieblingsmärchen."
"Meine Enkelin liebt es auch." Wieder lacht die Frau und versinkt im Damals. "Ich weiß schon gar nicht mehr, wie oft ich es ihr vorlesen musste. Und manchmal hat sie sich in den Taubenschlag geschlichen und ein paar Federn aufgesammelt, die sie sich dann wie eine Indianerin ins Haar gesteckt hat. Und einmal hat sie mich gefragt, ob die Tauben verzauberte reiche Damen seien, weil die Schwanzfedern beim Fliegen aussähen wie ein Fächer. Verrückt, nicht?"
Ihre Gesprächspartnerin sagt nichts, spielt mit einer Haarlocke und blickt in die Ferne. Die Alte scheint es nicht zu bemerken und spricht munter weiter.
"Und ihre größte Freude ist es, plötzlich laut aufzuschreien, damit sie den Tauben auf dem Dach beim Davonflattern zusehen kann. Sie liebt das Geräusch, das sie beim Fliegen machen. Sie ist letzte Woche sieben Jahre alt geworden. Haben Sie Kinder?"
Das Mädchen verneint und wirft noch mehr Krümel auf den Boden. Die Stadttauben picken sie gierig auf.
"Mein Mann hat ihr zum Geburtstag ein Küken geschenkt, es trägt gelben Flaum und hat die Augen noch geschlossen. Wenn es ausgewachsen ist, wird es sicher auch diesen grünvioletten Schimmer am Hals haben." Sie macht eine kleine Pause. Ihr Gesicht nimmt einen bedauernden Ausdruck an. "Ich muss Ihnen sagen, dass die Tauben leider auch sehr gut schmecken. Aber meiner Enkelin sagen wir natürlich nicht, dass wir die Tauben auch schlachten. Es würde ihr das Herz brechen. Die Herzen schmecken übrigens am besten."
Beide Frauen schweigen. Eine Weile schauen sie nur den Tieren zu, die sich um die mitgebrachten Krumen reißen. Irgendwann ist die Tüte leer, und die Alte packt sie in ihre Handtasche. Dann dreht sie sich plötzlich zu der jungen Frau um und fragt: "Als mein Mann noch gelebt hat, hat er Tauben gezüchtet. Wussten Sie, dass Brieftauben immer den Weg nach Hause finden, egal wie weit sie dafür fliegen müssen? Sie dürfen sich nur nicht vom Habicht erwischen lassen!"
Sie fährt mit dem Finger über einen losen Knopf an ihrem Mantel. Dann blickt sie auf die Vögel zu ihren Füßen, verwundert, als hätte sie sie eben erst bemerkt. Es beginnt zu regnen. "Manchmal denke ich, ich bin auch wie eine Taube. Mein alter Kopf mag Einiges vergessen haben, aber den Heimweg werde ich immer finden, jawohl." Entschlossen setzt sie ihren Hut auf, erhebt sich mühsam und entfernt sich leicht gebückt von der Parkbank.
Das Mädchen sieht ihr nach. Die Frau kommt nur langsam voran. Nach ein paar Metern bleibt sie stehen, sieht sich hilflos um. Da atmet das Mädchen tief durch, streicht sich über das nasse Gesicht und eilt auf die alte Dame zu. Behutsam nimmt sie ihren Arm und sagt: "Komm, Oma. Ich bring dich nach Hause."
Ann-Kathrin Walz lebt in Westerstede.
Christian Aeberhard
Heimatschlag
Im Licht der Neonröhren zeigte der Spiegel ohne jede Nachsicht, was aus ihm, der davorstand, geworden war: Ein alter Mann. Seiner Uniform, die er des heutigen Anlasses wegen ein letztes Mal hervorgenommen hatte, hatte die Zeit weniger anhaben können als seinen Gesichtszügen.
Von ihr ließ sich der Staub ohne Schwierigkeiten abbürsten, ihm aber war er bis in die Poren seiner Haut gedrungen, so dass er jetzt in ein Gesicht voller Fahlheit sah. "Alt", sagte er leise, und dann, wie im Trotz: "Altgedient." Er straffte sich und stellte sich aufrecht hin, so dass der Trübsinn an ihm nicht länger Halt fände. Hervorgerufen durch die Bewegung, spielte ein Lichtreflex auf seinem Kragenspiegel. Hell glänzte die winzige, goldene Taube auf.
Als ehemaliger Armeeangehöriger, der seit solch langer Zeit aufgrund seiner Hingabe und Fachkenntnisse so genannt ehrenhalber tätig war, wurde er von der Belegschaft der Kaserne meist nur – je nach Achtung, die man ihm und seiner Tätigkeit entgegenbrachte – "Taubenvater" oder "Taubenonkel" genannt.
Und nachdem er einmal beim Essenfassen geäußert hatte, das Hinstreichen über Taubengefieder fühle sich so viel friedlicher an als das Exerzieren von Gewehrgriffen, fehlte es nicht an solchen, die ihm vor ihren Kameraden im Scherze zuriefen, wann er denn endlich gedenke, die Viecher weiß einzufärben, dann könne jeder hier endlich nach Hause gehen. Die letzten Worte waren jeweils im Gelächter der anderen untergegangen.
Auch nur zu hören, wie seine Tauben "Dienstvögel" genannt wurden, hatte ihm – auch wenn er dieses Empfinden niemals laut werden ließ – stets missfallen. Schließlich waren sie es, seine Kameraden ebenso wie seine Vorgesetzten und er selbst, die unten zurückblieben und den Tieren nachspähten, wenn sie so mühelos himmelwärts stiegen.
Stets war er mitgefahren, wenn die Tauben im Laufe einer Übung an ihren Auflassort gebracht worden waren, und hatte darauf geachtet, dass man mit ihnen auch in der Hektik der Ernstfallsimulation pfleglich umging. Wurden Nachrichtenbehältnisse unsachgemäß angebracht, hörte man sogar ihn einmal laut werden.
Heute versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen. Schwer fiel ihm das, wenn Kameraden bei ihm vorbeischauten, um ihn in unbeholfener Verlegenheit aufzuheitern. Sie beließen es bei einem Schulterklopfen und bei ein paar gewollt leichthin geäußerten Worten. Von amtlicher Seite war es ihm beschieden worden.
Sparzwänge, hieß es. Überrascht hatte es ihn nicht: Die dienstlich verordneten Flüge – sogar die Kurzstrecken – waren weniger und weniger häufig geworden. Nun würde die Taubenstation aufgehoben und die Soldaten, die in ihr ihren Dienst taten, sollten versetzt werden, die Tiere ausgemustert.
Und damit er nicht als Einziger zurückblieb, würde er sich in den Ruhestand begeben, den wohlverdienten, wie man von oben nicht müde wurde zu betonen, seit das Ende des Taubenflugdienstes beschlossene Sache war.
Der Transporter musste jeden Moment eintreffen. Inmitten der Taubenschläge stand er, horchte auf das vielzählige Gurren und Scharren. Es würden die letzten Minuten sein, die er hier ungestört zubrächte. Den Abschied hatte er sich so lange wie möglich vom Leibe gehalten, und die Worte, die er nun sprach, klangen, obgleich seltsam gedrechselt, eingängig wie ein Mantra:
"Selbstreproduzierende Kleinflugkörper auf biologischer Basis mit festprogrammierter automatischer Rückkehr aus beliebigen Richtungen." So hatte man die Tiere hier drin bis heute nach Dienstvorschrift benannt. Es hatte ihn immer wieder lächeln machen. Danach sprach er noch anderes zu ihnen.
Und dann war es so weit. Der Lastwagen fuhr vor und so dicht an die Baracke heran, dass die Tauben, aufgeschreckt durch den Motorenlärm, beunruhigt mit den Flügeln flatterten. Er trat beiseite, um den Soldaten, die sich daran machten, anstelle der üblichen Transportboxen gleich die ganzen Taubenschläge zu verladen, nicht im Weg zu stehen.
Sein Angebot, mit anzupacken, hatte man höflich abgelehnt und ihm erklärt, dass man die paar Kisten im Nu weggeräumt habe. Warum er es sich nicht etwas behaglicher einrichte; vielleicht sogar ein wenig übers Kasernenareal spazieren gehe. Das tat er dann auch, und als später hinter ihm der Schlagbaum niederfuhr und er sich auf den Heimweg machte, fühlte er auch die Dankbarkeit, dass er sich so lange hatte mit Wesen umgeben dürfen, für deren Bestand er zuständig gewesen war, um deren Schönheit sich aber ein anderer (einer, der sich so viel besser darauf verstand als er) verdient gemacht hatte.
In jener Nacht kamen die Tiere wieder, so zahlreich, dass er sich sicher sein durfte, dass jede der Brieftauben, die er in all den Jahren herangezüchtet und gehegt hatte, den Weg zurück gefunden hatte, um ein letztes Mal ihren Heimatschlag aufzusuchen. Alle würden sie wiederkehren, auch jene, die er nach den schwierigen Alpenflügen verloren geglaubt hatte.
Sie flögen ihm im Abendlicht entgegen, den sanften Glanz der sich senkenden Sonne auf ihren Flügeln. Und sie würden sich um ihn versammeln und ihn so wissen lassen, dass alles gut war.
Traumverloren schlief er, und etwas wie ein Lächeln lag nun in seinen Zügen.
Christian Aeberhard lebt in Brugg in der Schweiz.
Andrea Alms
Wunderschön traurig
Dunkle Gewitterwolken zogen auf. Schnell türmten sich die Wolkenmassen am schwarzen Himmel, löschten jedes Licht. Bedrohlich ballten sie sich zusammen, wechselten ständig ihre Formen. Ein Sturm tobte dazu, brüllte, fauchte, bog Bäume und Büsche. Peitschend setzte Regen ein, ergoss sich in Böen auf den Sommertag.
Ich stehe am Fenster, an dem die Regentropfen traurig wie Perlen hinabrinnen. Sehe wie durch einen grauen, trüben Regenschleier. Der Wind pfeift ums Haus, rüttelt an Dachziegeln und Gartenmöbeln. Da, unter dem Gartentisch, bewegt sich etwas unmerklich. Klein, zierlich, geduckt – fast unbeweglich. Für eine Katze zu klein, für eine Maus zu groß. Irgendetwas hat hier Unterschlupf gesucht. Aber was?
Bei diesem Wetter jagt man wahrlich keinen Hund vor die Tür. Aber irgendetwas anderes hockt bei mir im Garten unter meinem Plastiktisch. Dieser wippt hin und her, droht bei dem Sturm zu kippen. Darunter, ganz ruhig, sitzt ein Vogel.
Als sich der Sturm beruhigt hat und der Starkregen einem feinen Niesel gewichen ist, traue ich mich raus und begutachte meinen Gartengast. Es ist eine Taube – eine Brieftaube. Sie sitzt da, mit geschlossenen Augen, als wolle sie das nasse und windige Elend, welches um sie herum braust, nicht sehen. Sicher hat sie hier einen trockenen Platz gesucht. Bei diesem Sturm und Regen wäre sie nicht vorwärts gekommen. Denn Brieftauben haben nur einen Auftrag: nach Haus zu fliegen. Wo mag dieses Zuhause sein? Wo muss sie noch hin, wo kommt sie her?
Leise locke ich sie; weiß nicht, ob ich ihr damit schade oder sie störe. Ich rede beruhigend auf sie ein, ohne zu wissen, ob sie es auch so versteht. Ich bin fasziniert von ihr. Ihre Augen sind immer noch geschlossen, das Köpfchen eingezogen, in einen Kragen flauschiger Federn. Ich dachte immer, Tauben sind einfach nur grau, maximal blau. Aber dieses Grau ist silbrig und glänzend – wunderschön. Am Hals mischen sich grüne mit blauen Farbtönen, schillern geheimnisvoll. Es flimmert und strahlt, und unter diesen wunderschönen Federn erahne ich den sich langsam beruhigenden Herzschlag. Es stimmt mich traurig, dass ich nicht weiß, was ich machen soll. Ich will ihr ja nicht schaden, ihr nur helfen. Doch wobei?
Sie ist so wunderschön, so verletzlich und in sich ruhend, dass mir Geschichten durch den Kopf gehen. Vom Aschenputtel, vom Wenzelsplatz, von Taube Willi in Schwiegermutters Garten. Vielleicht ist sie eine verzauberte Prinzessin, die sich verirrt hat, ihren Liebsten sucht, der sie nicht erkennt, und vor dem Fluch der alten Hexe fliehen muss... Ach nein, es ist eine Brieftaube, die Schutz gesucht hat, sich ausruht und nach Hause will.
Ich hocke schon genauso wie diese Taube da unter dem Tisch, beobachte sie, minutenlang. Da entdecke ich an ihrem Fuß einen roten Ring. Der wird mir verraten, wo sie zu Hause ist. Sie sitzt so ruhig, dass ich mühelos die Telefonnummer lesen kann. Also eile ich ans Telefon und rufe die Nummer an. Ein netter Herr aus Strausberg meldet sich. Ich erkläre ihm, wer unter meinem Gartentisch Zuflucht vor dem Wetter gesucht hat. Er lacht, es klingt in meinen Ohren fast beruhigend. In keinster Weise hat er sich Sorgen gemacht. Er wird seine Taube genau kennen, sie wird immer schon nach Hause gefunden haben.
Der Herr erklärt mir, dass die Brieftaube von Düsseldorf kommt und seit mehreren Tagen unterwegs in einem Wettbewerb ist. Sie wollte sicher den Sturm und Regen meiden, sich ausruhen, Kraft schöpfen, und würde nur etwas Wasser benötigen. Schnell suche ich ein flaches Gefäß, eile wieder raus und reiche ihr etwas Wasser. Sie hat inzwischen die Augen geöffnet: kleine samtschwarze Perlen. Sie schaut fast starr vor sich hin. Irgendwie traurig und verzaubert. Sicher ist sie aufgeregt und hat Angst. Aber ich merke es nicht. Ganz ruhig sitzt sie da und äugt ganz unscheinbar und vorsichtig umher.
Irgendwie gefällt ihr mein Wassernapf nicht. Sie geht nicht ran. Ich sollte gehen und sie in Ruhe lassen. Aber ich nehme das Gefäß und stelle es dichter zu ihr hin. Damit vertreibe ich sie nur. Sie hüpft etwas weiter weg. Und dann wird sie munter, hüpft orientierungslos und neugierig unter den Carport, in den Schuppen, wieder raus. Es leuchtet mir ein. Ich lasse sie allein. Wende mich weg von dieser wunderschönen, fast majestätisch anmutenden Taube. Ich beobachte sie von weitem. Sie lässt den Wassernapf stehen und hopst wieder unter den Tisch. Hin und wieder kontrolliert sie, wie das Wetter ist.
Und irgendwann, als ich schon nicht mehr regelmäßig hinsah, war sie weg. Einfach so. Sie ging wie sie kam, unauffällig und unscheinbar. Auch der Regen und der Sturm beruhigten sich. Der Zauber dieser Stunde verflog. Sie war auf dem Weg nach Hause.
Ich habe nie erfahren, ob sie angekommen ist. Ob sie gewonnen hat. Im alltäglichen Lebensrhythmus habe ich sie sogar vergessen. Nicht mehr an die Schöne gedacht, die so sittsam und anmutig unter meinem Tisch hockte, mit den Perlenaugen, mit den flimmernden, silbrig-grauen Federn. Nur ab und zu, wenn ich mich in dieser Gartenecke mit dem Tisch bewege, fällt sie mir plötzlich wieder ein. Dann habe ich ein Lächeln auf den Lippen, und verträumt denke ich an sie, wie wunderschön sie war, wie sie mich verzauberte, wie ich mich wie ein Kind zu ihr hingezogen fühlte, sie mir leid tat.
Sie war so wunderschön traurig.
Andrea Alms lebt in Michendorf.
Anne-Christl Bolkart
Tauben im Kopf
Gehen wir Tauben vergiften im Park?
Ne doch, so was doch nicht. Diese grazilen Tiere.
Ja solange sie nur wenige sind.
Aber sechstausend in der Stadt?
Ja, da denkste an Gift, an geordnete Entsorgung.
Schon wieder? Hatten wir schon.
Was hast du eigentlich gegen Tauben?
Aggressive und angriffslustige Tiere sind das. Was machen die bloß jeden Morgen bei uns für ein Geschrei, streiten sich mit den Elstern. Nicht mal ausschlafen kann man. Wir sind doch nicht auf dem Markusplatz! Dieses Gekreische, gurr, gurr, gurr.
Mein Opa war ein Taubenfreund. Das ist ein Virus, da kommt man einfach nicht mehr los, hatte der alte Mann gesagt.
Der Enkel erinnerte sich.
Im dämmrigen Taubenschlag, an den Wänden, hatte sich überall weißlicher Staub gesammelt. Talg-Rückstände aus dem Gefieder der Vögel. Tauben-Opium. Es soll süchtig machen. Ich hör noch wie Opa lacht. Feine Partikel tanzen durch die Luft. Ammoniak-Geruch.
Tauben haben Eisen im Kopf, sagte sein Freund, der Taubenhasser. Das heißt, sie haben einen inneren Kompass, er scheint im rechten Auge zu sitzen. Damit können sie die Richtung des Magnetfeldes feststellen – und zu ihrer Navigation verwenden, dazu die Sonne und Landmarken. Und im Schnabel haben sie einen zweiten Magnetrezeptor.
Schon recht, lass mal.
Stickig war es da oben auf dem Dachboden. Das Holz knackte und knisterte, heiß war es da, nur mit Mühe konnte ich das sperrige kleine Dachfenster aufstoßen.
Ich habe noch Fotos, weißt du, ich habe sie gefunden, gleich neben den alten Taubenschlägen, einen riesigen Stapel.
Kriegsbilder. Bildreporter packten Filmrollen auf den Rücken von Tauben, ich fand da auch ein Fußröhrchen für die Tiere, darin brachten sie, sagte Opa, Liebesbriefe, Blutproben und eilige Medikamente.
Er nahm Körbe mit in den Schützengraben. Selbst unter Granathagel konnten sie Tauben noch fliegen lassen.
In einem Brief stand:
Sie steckten fest, in Verdun, im Dreck, froren bei der Nässe, der Enge in den Laufgräben, litten entsetzliche Angst vor dem feinen Pfeifen der Granaten, den Splittern, suchten Schutz zwischen den Bombentrichtern, sammelten die starren Leiber. Auch für mich gibt es kein Halten mehr! Hatte Opa geschrieben.
Jetzt sitz ich hier, von Grauen geschüttelt. Die Hölle konnte nicht schlimmer sein, schrieb er als blutjunger Soldat.
Seine Tauben sollten als lautlose Boten im Schutz der Wolken die feindlichen Linien überfliegen. Abhörsicher.
Klackern von Krallen auf Holz. Blaugraues Gefieder schillert grünlich, an manchen Stellen pinkfarben, andere rötlich-braun gestreift. Wie anmutig der kleine Kopf. Manche sind unermüdliche Balzer, hatte Opa gesagt. Gurren und trippeln.
Keine Ratten der Lüfte. Nette Tiere. Aber der Gestank.
Im eleganten Sturzflug lassen sich die Tauben vom Himmel fallen, so schwärmte Opa mir vor, und verschwinden mit einem letzten Flügelschwung in ihrem heimatlichen Schlag.
Ich hab's, unterbrach ihn der Taubenhasser, den Tauben fehlen ihre natürlichen Feinde: Sperber, Falken, Habicht, Eulen, Marder, Wiesel, Katzen und Ratten. Wer hat sie dezimiert? Wir.
Zu viele Stadttauben führen ein elendes Leben. Schau dir die abgemagerten Vögel an, bis zum Skelett abgemagert, gerupft, zerfledderte Federkleider. Was in der Stadt gefüttert wird, ist einfach zu einseitig, die Tiere werden träge und krank.
Sie mögen Unkrautsamen, die brauchen Bewegung und Vitamine. Füttern wir sie halt richtig.
Träum doch nicht! Die Plage bleibt!
Statt vergiften oder einfangen müssen wir Standorte bieten, hohe Taubentürme hatten man schon vor 5000 Jahren für die columba livia oder – schau, was sie in Ludwigshafen geschafft haben!
In einem alten Bunker. Hier werden die Eier ausgetauscht. Es gibt Vollwertfutter, das verdünnt den aggressiven Kot, taugt sogar als Dünger. Es leben statt fünf- nur noch zweitausend Tauben in der Stadt. Das ist verträglich.
Leben und leben lassen, uns würde doch etwas fehlen bei Hochzeitsfeiern und im Sportstation – ist doch schön anzusehen die hochauffliegenden Tauben.
Also nicht Tauben vergiften im Park.
Anne-Christl Bolkart lebt in Kirchheim am Neckar.
Gaby Cadera
Henriette
"Henriette, goldene Kette, goldener Schuh und raus bist du! Raus bist du noch lange nicht, sag mir erst wie alt du bist. Eins, zwei..." Mein Blick war von der Bewegung unter einem Busch angezogen worden und ich blieb stehen. Das Springseil peitschte an meinen Knöchel und die beiden anderen Mädchen zählten nicht weiter.
"Ich bin dran." Britta hielt mir den Griff des Seils entgegen, doch ich steuerte auf das Gebüsch zu.
"Was ist los?", fragte Yvonne.
"Da sitzt eine Taube!" Ich ging in die Hocke und griff vorsichtig nach dem graublau schimmernden Tier.
"Die ist ja zahm", stellte Britta fest.
"Vielleicht ist sie verletzt, hat sich einen Flügel gebrochen – dann krepiert sie. Für eine Katze wäre das ein ordentliches Fressen!" Yvonne schaute auf mich herab.
"Wie soll sie sich denn während des Fluges einen Flügel brechen? Außerdem würde man es sehen, wenn der gebrochen wäre. Sicher ist sie nur erschöpft." Ich zog meine Strickjacke aus und legte sie behutsam um den kleinen Körper.
"Ich würde die nicht anfassen! Meine Mutter sagt immer, Tauben bringen nur Krankheiten", bemerkte Yvonne.
"Das ist eine Brieftaube, sie trägt einen Ring, guck hier."
Yvonne trat etwas näher.
"Weißt du eigentlich, wie weit Tauben fliegen können?", fragte ich. Doch Yvonne schüttelte nur den Kopf.
"Hast wieder mal keine Ahnung!" Ich nahm die Taube auf den Arm und trug sie nach Hause.
Ich hatte die Tür noch nicht ganz geöffnet, da plapperte ich auch schon los: "Mama, haben wir einen Karton?"
"Was ist es diesmal?" Meine Mutter hörte auf, mit dem Geschirr zu klappern und schaute zu mir herüber. "Wenigstens nicht wieder ein Hund, den du durch das halbe Dorf hierher geschleppt hast."
"Und ich brauche ein Schüsselchen mit Wasser."
Schnell bereiteten wir einen Karton mit einem Handtuch und setzten die Taube hinein. Zaghaft streichelte ich ihr das Köpfchen und setzte ihr das Wasser vor. "Bist du so viel geflogen?" Sie schien etwas verschüchtert, rührte sich aber nicht von der Stelle. Ich versuchte sie zu beruhigen und sang ihr leise das Lied von Henriette vor.
Plötzlich stand meine Mutter neben mir. "Ich war gerade bei den Nachbarn gewesen. Herr Lubosch kennt einen Taubenzüchter, er würde mit dir dort hinfahren. Der könnte auch herausbekommen, wem die Taube gehört."
"Aber ich habe Henriette noch gar nicht richtig kennengelernt."
"Du sollst doch den Tieren nicht immer gleich Namen geben. Wir können sie nicht behalten. Wenn wir alle..."
"...behalten würden, könnten wir Eintritt nehmen, wie im Zoo", vollendete ich den Satz, den ich schon zig Mal gehört hatte. Ich zog mir die Strickjacke wieder über und nahm Henriette im Karton mit.
Drei Straßen weiter wohnte der Züchter.
"Hier kreisen doch immer die Tauben", bemerkte ich. Und als ob sie es bestätigen wollten, rauschte über unseren Köpfen ein Taubenschwarm vorbei und verschwand hinter dem Hausdach.
"Guten Tag, junges Fräulein", begrüßte mich Herr Mentler. "Komm rein." Er bat mich in die kleine Wohnstube des Zechenhauses. Ich stellte den Karton auf den Tisch. "Ich habe Henri... äh, die Taube unter einem Busch gefunden, sie mit nach Hause genommen und ihr etwas zu trinken gegeben."
"Du hast alles richtig gemacht." Mit seiner groben Hand strich er mir über den Kopf und ich war so stolz, dass ich mich gleich zehn Zentimeter größer fühlte. Dann griff er nach der Taube, untersuchte sie, drehte sie schließlich auf den Rücken und begutachtete den Ring an ihrem Fuß. Hoffentlich zerquetscht er sie nicht mit seiner Pranke, dachte ich.
"Das haben wir gleich." Er notierte die Zahlenkombination von dem Ring und schlug in einem Büchlein nach. Sogleich nahm er den grauen Hörer vom Telefon, drehte ein paar Mal die Wählscheibe, und schon war der Besitzer über den Verbleib seiner Taube informiert. "Herr Walter hatte sie schon vermisst und er bedankt sich recht herzlich bei dir. Er kommt sie morgen abholen."
"Und was hat sie nun?", fragte ich.
"Sie ist noch jung und hat womöglich die Orientierung verloren. Sie ist nur erschöpft, braucht noch etwas Futter und Ruhe, dann geht es ihr wieder gut."
Dann drängte sich mir die Frage auf: "Wie weit können Brieftauben eigentlich fliegen?"
"Oh, das kommt darauf an." Herr Mentler setzte sich auf einen Stuhl. "Junge Tauben schaffen schon mal um die 250 Kilometer. Erfahrene Tauben können bis zu 700 Kilometer zurücklegen, und das sogar an einem Tag."
Vor Erstaunen riss ich die Augen auf.
"Das ist noch weiter als bis nach Bayern", erklärte er und lächelte. "Als kleines Dankeschön für die Rettung möchte ich dir etwas schenken." Herr Mentler zog einen Taubenring auf ein Lederband, legte es mir um den Hals und verknotete es. Noch einmal streichelte ich Henriette vorsichtig und wir verabschiedeten uns.
Ohne Umwege lief ich zu den Mädchen. Britta rief mir entgegen: "Machst du wieder mit?"
Ich nickte.
"Wie weit können Tauben nun fliegen?", fragte Yvonne.
"Weiter als bis nach Bayern!"
"Wie weit ist Bayern?"
"Du hast mal wieder keine Ahnung!"
Als ich an der Reihe war, spürte ich bei jedem Sprung den Taubenring an meinem Hals auf- und abhüpfen und überlegte, wie lange man wohl mit dem Auto nach Bayern fuhr.
Gaby Cadera lebt in Dortmund.
Ingo Cesaro
LIEBESBRIEFE II
den Kopf voller Liebesbriefe
hundertmal neu formuliert
und doch nicht
an dich abgeschickt
pfeift ein Nachbarsjunge
"Kommt ein Vogel geflogen..."
werde ich unruhig
und schaue gleich im Schlag nach
vielleicht ist meine Brieftaube
mit einem Liebesbrief
als Antwort von dir
heute schon
zurück
Ingo Cesaor lebt in Kronach.
Heiko Hufnagel
Ein schöner Traum
Ein frischer Nachtwind hatte leise Musik im Gepäck. Die Gäste des >Paloma<, eine zurechtgenestelte Kneipe auf dem Dachboden eines alten Postgebäudes, waren in vollem Gange. Die Luft in diesem Verschlag war stickig, und durch den mit Schweiß vermischtem Staub entstand der Eindruck von Rauchschwaden.
Der leidenschaftliche Barkeeper und gleichzeitig Inhaber war Garry Christada. Garry war von wirklich mächtigem Wuchs mit einer wirklich mächtigen Stimme und wurde nicht nur dadurch von allen respektiert. Mit der diametralen Strenge, die er bei seiner Ernährung an den Tag legte, sorgte er in seinem Club für 'Zufriedenheit', wie er es nannte.
Trotzdem hatte er immer ein offenes Ohr und einen väterlichen Ratschlag für die Sorgen anderer Tauben. Wenn sich etwa ein junges Täubchen die Stimmbänder kürzen lassen wollte, um ihre Musikkarriere voranzutreiben, dann wies er das arme Ding darauf hin, dass sie keine Stimmbänder sondern einen Stimmkopf hatte und fragte, ob es nicht besser sei, in der Werbung anzufangen.
Es wurde spät, und der Saal leerte sich wie ein Kasten Bier beim Grillen. Garry stand hinter seinem Tresen und polierte Gläser. Mitleidig blickte er auf die sabbernde Taube auf der anderen Seite der Theke.
"Es wird Zeit, Duff."
Duffs Kopf rutschte unter dem Schreck der Anrede vom Flügel, auf den er gestützt war. Mit verquollenen Augen starrte er Garry an.
"Komm schon, mein Junge. Ich will gleich schließen", sagte Garry.
"Was, jetzt schon? Gib mir wenigstens noch einen Rausschmeißer. Und einen für den Heimweg. Aber einen Doppelten. Der Weg ist lang", scherzte Duff.
"Du solltest nicht mehr fliegen. Willst Du nicht lieber bei mir schlafen? Die Couch ist frisch gereinigt", sagte Garry.
"Nein, nein. Ich hab' morgen wieder einen Einsatz, und die Jungs sehen es nicht gern, wenn man aus einem anderen Schlag kommt. Außerdem muss ich noch Blumen gießen", erwiderte Duff nicht ohne Stolz auf seine faule Ausrede.
"Sag mal Duff, wie lange willst Du dich noch mit diesen ehrlosen Typen abgeben? Drogen über die Grenze schaffen, nächtelang durch fremde Gegenden fliegen. Du musst doch wissen, wie gefährlich das ist. Du bist schließlich im Krieg gewesen und..."
"Ja genau. Der verdammte Krieg. Ich war keine 40 Tage alt, als die mich geholt haben. Ich hatte fast noch zarten Kükenflaum auf den Rippen, und die haben mich bis zur Erschöpfung gedrillt. Und dann? Dann war der Krieg vorbei. Und ich arbeitslos. Wer gibt denn einer abgehalfterten Kriegstaube eine einträgliche Arbeit? Verdammter Krieg. Wer hat den überhaupt gewollt? Ich jedenfalls nicht", wetterte Duff.
"Schon gut, mein Kleiner. So war das nicht gemeint." Garry goss ein Glas halbvoll.
Umständlich griff Duff danach und stürzte seine Wegzehrung mit energischen Schlucken hinunter.
"Und was hattest Du gewollt?", hakte Garry nach.
Duff stutzte und senkte den Kopf. "Also, wenn ich ehrlich bin... Du darfst aber nicht lachen", sagte Duff.
"Immer raus damit."
"Zauberei!", sagte Duff halblaut.
"Was?"
"Ich wollte schon immer eine Zaubertaube sein", sagte Duff nun konsequent.
Garry brauchte eine Weile, um seinen Schnabel zu schließen, entgegnete dann aber: "OK. Das ist ungewöhnlich. Vor allem für einen Typ wie dich. Was hält dich denn jetzt dav..."
Aber Duff war schon geflogen.
Am nächsten Morgen fuhren Duff und andere Kuriertauben mit dem Zug über die Grenze. In einer Reihe aufgestellt, warteten die Tauben, bis sie beladen wurden, um dann sofort den Rückflug anzutreten. Duff war als letzter dran. Die ersten Kilometer waren am mühseligsten mit dem zusätzlichen Gewicht, aber wenigstens regnete es nicht. Er hatte die Grenze bereits wieder passiert, als ihm die letzte Nacht zu schaffen machte und er in der Nähe eines Waldes landete. Die Pause war mehr als nötig. Nach einem Nickerchen und ein paar Schnäbeln voll erfrischenden Pfützenwassers orientierte er sich für den Heimflug.
>GIK<
"Oh, nicht doch!" Er beschleunigte für den Start.
>GIK! GIK!<
Duff erhob sich, und seine Flügelschläge prügelten die Luft, als plötzlich der Habicht aus seinem Versteck hervorschoss.
>GIK! GIK! GIK!<
Er hatte keine Chance. Der Habicht trieb seine Krallen in Duffs linken Flügel und drückte ihn Richtung Erde. Verzweifelt pickte Duff nach dem Angreifer und traf ihn an einer empfindlichen Stelle. Und noch einmal. Der Schmerz verblüffte den Habicht derart, dass er Duff aus seinen Fängen freiließ und flüchtete. Duff trudelte benommen dem Boden entgegen.
Dunkelheit zog hinter seiner Stirn auf und ließ die Schmerzen des Aufpralls nicht mehr durch die Tür seiner Wahrnehmung. Unweit von Duffs Absturzstelle suchte ein Schüler der 3. Klasse und der Magie nach Anschluss zu seiner Gruppe. Doch statt seiner Mitschüler fand er den verletzten Duff unter blutverschmiertem Laub und nahm ihn heimlich mit nach Hause.
Nach einer Woche war Duff wieder halbwegs genesen, und beim Blick aus seinem behelfsmäßigen Käfig sah er, dass der Junge Zaubertricks übte. 'Ein schöner Traum', dachte er. Aber er träumte nicht. Er träumte auch nicht, als er sah, dass der Junge auf ihn zukam und sagte: "Na, dann wollen wir mal eine Taube aus dem Zylinder zaubern."
Heiko Hufnagel lebt in Dessau-Roßlau.
Hubert Hug
Botschaften
Tot lag die Brieftaube in der Hand des Peregriners. Blut lief über die gelben Federn. Der Peregriner rief seine Freunde. Neugierig und ungeduldig durchsuchten sie den Leichnam. Aber auch diese Taube schien keine Botschaft des Gegners, der Palomaner, an sich zu tragen, weder an einem Bein, noch an einer Feder noch sonst wo an ihrem Körper.
Die Peregriner verzweifelten. Denn schon viele Brieftauben hatten sie gefangen. Keine trug eine sichtbare Nachricht, und so blieben die Palomaner unbesiegbar. Um jeden Preis wollten sich die Peregriner die Errungenschaften der Palomaner aneignen, ein Wunsch, der wegen der palomanischen Brieftauben unerreichbar zu werden schien. "Wir werden diese verdammten Brieftauben ausrotten", schimpfte der Anführer der Peregriner.
Die Palomaner mussten auf Brieftauben zur Nachrichtenübermittlung zurückgreifen, weil sich inzwischen alle Arten von Wellen im Luftraum abfangen und entschlüsseln ließen.
Wieder schossen die Peregriner eine erschöpfte Brieftaube ab. Diesmal eine blaue, die bis in die tiefsten Strukturen untersucht werden sollte. Jede Feder wurde genau betrachtet. "Schöne Farben haben sie ja", bemerkte dabei der Anatomiespezialist der Peregriner, und das war alles, was sich an den Federn feststellen ließ. Alle Organe und Gewebe wurden sorgsam entnommen und separiert.
Sie entdeckten keine Verletzung, keinen Mikrochip, keine Metalle, keine Nanopartikel oder andere Fremdsubstanzen, die als Nachrichtenträger dienen könnten. Im Magen fanden sie neben zerkleinerten Körnern bunte Kieselsteinchen. Aus diesen ließ sich jedoch nichts herauslesen. Der Darminhalt war durchgehend dünnflüssig und ohne feste Bestandteile. In diesem Brei konnte keine Nachricht versteckt sein. In den Knochen war nur das Mark. Das Blut gerann wie üblich schnell, ohne dass sich in dem dunkelroten Grind etwas finden ließ, und auch in den Zehennägeln war nichts versteckt.
Wie könnte der Code noch aussehen und wo wäre er zu suchen? Die Peregriner schienen am Ende zu sein. Da man in den letzten Jahrzehnten Haustauben der Art Columba livia allgemein vernachlässigt hatte, war auch das Wissen über sie zum großen Teil verloren gegangen, und die alte Literatur konnte nicht weiterhelfen.
Waren die Brieftauben der Palomaner vielleicht nur ein Ablenkungsmanöver? Man hielt Ausschau nach anderen Vögeln. Eine Rabenkrähe wurde abgeschossen. Aber auch an und in ihr ließ sich keine Nachricht finden. Man dachte natürlich auch an neue Arten von Wellen und Teilchen. Doch da waren alle Möglichkeiten ausgeschöpft.
So richteten die Peregriner ein Institut mit Speziallaboren für alle bekannten biochemischen und molekularbiologischen Analysemethoden ein. Zuerst suchten sie die Magnetrezeptoren. "Es gibt zwei Typen von ihnen", sagte der Leiter des Labors: "Einer ist in der Nase, die bei Brieftauben im Vergleich zur Felsentaube größer ist, und einer im Auge." Aber einer der Wissenschaftler stellte fest: "Ich denke nicht, dass die Palomaner irgendetwas an den Magnetrezeptoren verändern würden, denn dann könnten die Tauben ihr Ziel ja nicht mehr finden." Dieses Argument war überzeugend, und man stellte die Untersuchungen dazu ein.
Jetzt dachte man an eine zusätzliche Information im Erbgut. "Es wäre immerhin möglich, dass die Palomaner mit gentechnologischen Methoden manipulierte und Informationen tragende Nukleinsäuremoleküle in bestimmte Zellen geschleust haben", meinte der Institutsleiter. So suchten die Peregriner nach Änderungen in allen Nukleinsäurearten. Aber keine zusätzliche oder veränderte Information ließ sich im Erbgut der erlegten Brieftauben finden. Nichts Neues zeigte sich, auch nicht bei den kurzen Molekülen. "Wir brechen hier ab", fluchte ein Laborleiter und warf die Pipetten weg.
In ihrer Verzweiflung untersuchten die Peregriner die Strukturen der Proteine. "Wir suchen nach Proteinen in einer anderen Faltung. Man nennt Sie auch Prionen", erklärte ein Wissenschaftler. "Aber das ist absurd. Die Tiere würden erkranken. Man bekäme es mit Taubenwahnsinn zu tun", antwortete ein Kollege. "Prionen können in jedem Gewebe vorkommen und müssen nicht zu einer Krankheit führen", war die Antwort. Im Vergleich zu ihren eigenen Brieftauben ließen sich jedoch weder in den Proteinstrukturen noch im Verhalten Unterschiede feststellen. "Wir müssen hier aufgeben und woanders suchen", stöhnte der Institutsleiter. Aber wo man noch hätte suchen können, wusste keiner.
Die Palomaner waren zufrieden. Sie züchteten Brieftauben in vielen verschiedenen Farben. Es starteten immer drei Tauben der gleichen Farbe. Dass die Peregriner alle drei Tauben eines Fluges fangen würden, war unwahrscheinlich. Eine sollte mindestens durchkommen. Danach ließ man drei Tauben einer anderen Farbe fliegen. Gegenwärtig benützten die Palomaner für die Übertragung der Information fünf verschiedene Farben, nämlich blau, schwarz, rot, gelb und rotfahl. Bei der Benützung von fünf verschiedenen Farben konnten sie so mit drei Flügen 5 * 5 * 5 = 125 verschiedene Nachrichten übermitteln, bei sechs Flügen sogar 15.625.
Die Reihenfolge der Farben war der Schlüssel. Um den Gegner noch mehr zu täuschen, ließen die Palomaner einzelne Brieftauben in den nicht für die Codierung verwendeten Farben wie gelbfahl oder weiß fliegen.
Dr. Hubert Hug lebt in Schliengen-Niedereggenen.
Ursula Lübken-Escherlor
Wenn der Wettergott irrt
Ich ging zum Fenster, schaute raus, wählte wieder seine Nummer – nichts. Dann wechselte ich zum Schrank, dort lag Schokolade. Ein neuer Versuch, Geduld führt bekanntlich zum Ziel. Endlich nahm Vater den Hörer ab, seine Stimme wirkte in diesem Augenblick beruhigend. Mich überraschte es nicht, dass Vater wegen der Tauben unterwegs gewesen war. Nur klang es, als sei er diesmal nicht mit den "Göttern" im Bunde. "Ein schlechter Tag, ein ganz schlechter Tag", sagte er. Im Hintergrund Stimmen. Weitere Fragen sparte ich auf und versprach, bald vorbeizukommen. Schnell floh ich hinaus an die frische Luft, denn – irgendwas stimmte nicht.
Beim letzten Gespräch über Tauben hatte Vater mir erzählt, den Nachwuchs bald ausfliegen zu lassen. Es seien mehr Junge als sonst, die er herangezogen habe, vor allem wegen der Verluste im letzten Jahr. Dabei stopfte er in alter Weise seine Pfeife, die dann wie eine Dampflok qualmte. Auf die jungen Brieftauben war er besonders stolz, die besten von ihnen sollten schon im kommenden Jahr an Preisflügen teilnehmen und sich bewähren.
"Training wie bei Sportlern", sagte er und zwinkerte mir zu. In den Wochen nach dem Ausschlüpfen waren die "Herbstjungen", so nannte Vater die Neulinge, regelrecht erzogen worden. Das war sein Geheimnis und lockte bei mir ein Schmunzeln hervor. Tauben erziehen! Aber ja, mein Vater erzog seine Crew, benutzte dazu sogar einige "Instrumente": die kleine Trillerpfeife und – wie ich beobachten konnte – eine Blechdose, mit der er Geräusche erzeugte. Diese Töne galten als Lockmittel für die Fütterung der Jungtauben, nachdem sie herumgeflogen waren. Vater sagte, es sei wie mit kleinen Kindern, junge Tauben müssten lernen, wo es Futter gibt und vor allem wann. Später, bei Preisflügen, käme es darauf an, ohne Zeitverlust in den Schlag zurückzukommen, anstatt sich auf dem Dach erst einmal auszuruhen... Also alles eine Frage der Disziplin.
Für Vater sind die Tauben das, was anderen Menschen Theaterbesuche, Konzerte oder Urlaube bedeuten – manchmal ist er wie besessen. Nie hatte sein Hobby für ihn an Zauber verloren, auch nicht, als er Witwer und zudem Ruheständler wurde. Im Gegenteil, die Brieftaubenzucht blieb seine Leidenschaft. Viele Pokale und Urkunden beweisen die Ausdauer, mit der Vater dem Brieftaubensport bis heute nachgeht. "Nicht ich, sondern die Tauben sind die Sieger", dies seine Worte, wenn ein Gremium ihn auszeichnete.
So viel Ehrgeiz, so viel Herzblut, wie ist das möglich? – fragten Bekannte, den ganzen Tag im Taubenschlag verbringen, mit den Tauben "per du" – er kennt wohl jede einzelne Taube? – Füttern, säubern, die Zucht, Termine und das Warten auf die Rückkehr... "Sein Lebensgefühl. Es braucht keine Worte und macht ihn glücklich", war so oft meine Antwort.
Mir fiel ein, was Albert Einstein mal gesagt hat, man müsse verrückt sein, um das zu begreifen, wobei der etwas ganz anderes meinte, aber es passte irgendwie.
"Ach, du", sagte Vater, als er mich dann am Wochenende sah. Wie immer war sein Gruß sehr knapp. "Kaffee?" Ich trank immer Kaffee, wenn ich ihn besuchte. Und noch während das Kaffeewasser brodelte, begann er vom großen Malheur zu erzählen, vom Wettergott, der diesmal nicht mitgespielt habe. "Damit konnte man nicht rechnen", sagte er, "die Wettervorhersage hier für die Küste hatte anders gelautet. Der Himmel war klar, als die Tauben zum Trainingsflug ausflogen, und die Luft eher zu mild für einen Novembertag."
Vater umfasste sein Kinn, stützte den Kopf auf, der schwer zu sein schien, er wirkte – wie er so dasaß – nachdenklich, gedankenverloren. "Ein schwarzer Tag, Kathi", sagte er dann. "Mittags war die Nebelwand da, gespenstisch – wie aus heiterem Himmel kam sie heran. Du hast Recht, ein Phänomen, ein Wetterphänomen. Dicke Nebelschwaden draußen, nichts mehr zu sehen – kein Nachbarhaus, keine Felder – Stille. Nur das Nebelhorn tönte in der Ferne in regelmäßigen Abständen. Ich wusste genau, was das bedeutet. Die kommen zurück, habe ich gedacht, die müssen zurückkommen. Verstehst du?" Ich stand auf und strich Vater über die Schulter. "Man hofft doch immer bis zuletzt, ist auch gut so." "Acht – acht meiner Besten sind mit den Jungen rausgeflogen." Vater schob mir einen Zeitungsausschnitt zu. "Ausstellungssieger, höchste Bewertungen. Und dann nur noch Warten, man kann nichts tun. Das Nichts-tun-können ist das Schlimmste."
"Sind denn..." ich wollte endlich wissen, wie viele Brieftauben unterwegs gewesen waren, doch Vater fiel mir ins Wort. "Drei Tauben habe ich zurückgeholt, etwa eine Autostunde entfernt. Sie hatten die Orientierung verloren, Wasser und dichter Nebel – das ist kein gutes Omen. Zwei weitere Züchter riefen an, einer von ihnen erzählte, die Tauben seien wahrscheinlich beim Niedrigflug über dem Wasser von einer großen Welle..." "Hör auf", sagte ich, "hör auf." Ein wirklich schlechter Tag, von dem Vater berichtete.
Schon lange war es kein Geheimnis mehr, dass auch mein Herz für seine Brieftaubenschar heftig schlug. Zugegeben – auch ich war ein bisschen verrückt nach ihnen.
Die Ausdauer und das Zurückfinden in den heimatlichen Schlag beeindruckten mich. Diesmal jedoch kam bei mir Traurigkeit auf, auch ein bisschen Wut – doch ich wusste, es würde weitergehen.
In meiner Fantasie ließ ich die jungen Brieftauben fliegen, hoch hinauf in den blauen Himmel, zur glitzernden Sonne – immer höher und höher...
Ursula Lübken-Escherlor lebt in Wilhelmshaven.
Iris Otto
Hope
Leicht gebeugt stieg er den Hang hinauf. Die Fliegen surrten um seinen Kopf und jetzt, wo die Wärme des Nachmittags langsam nachließ, zogen ein paar Wolken am Sommerhimmel auf. Schwerfällig ließ er sich auf der Bank nieder. Hier unter dem alten, schattigen Apfelbaum saß er am liebsten.
Von hier aus hatte man sowohl das kleine Wohnhaus im Auge, als auch die umliegenden Felder, die kleine Ortschaft weiter rechts und im Hintergrund die Schwäbische Alb. Der Friede, der hier regelmäßig in ihm einzog, wollte sich indessen nicht einstellen. Zu groß war die Anspannung. Immer wieder wanderte sein Blick suchend vom Dachgiebel des Hauses über die Weite der Felder bis zum Horizont.
So vieles hatte sich in den letzten Jahren verändert, das wenigste zum Guten. Aber er war ein unerschütterlicher Optimist geblieben. Sein Sohn Aaron hatte ihn vor wenigen Tagen dafür noch als Dummkopf beschimpft, bevor er mit Frau und Kind aufgebrochen war.
Ein kleiner Punkt am Himmel erregte kurz seine Aufmerksamkeit. Ein Star flog in Richtung eines Kirschbaumes.
Früher hatte seine Frau stets bei ihm gesessen, aber sie war schon einige Jahre tot. So vieles war ihr erspart geblieben.
Aber hatte Aaron überhaupt eine andere Wahl gehabt, als zu gehen? Leute wie sie waren nicht mehr gern gesehen in diesem Land. Im September letzten Jahres war jüdischen Rechtsanwälten die Erlaubnis zur Ausübung ihres Berufes entzogen worden. Es hatte Aaron schwer getroffen. Nur zwei Monate später wurde Sarah der Schulbesuch verboten.
Zu dritt schlüpften sie bei ihm unter. Trotz aller Anspannung war es ein schöner Winter gewesen. Abends lauschten sie gebannt dem Radio, tagsüber wich Sarah ihrem Opa nicht von der Seite. Am liebsten hörte sie seine alten jüdischen Geschichten. Aber Sarah teilte auch seine Liebe für die Brieftauben. Seine Tauben waren sein ganzer Stolz.
Stundenlang säuberten sie zu zweit den Taubenschlag unterm Dach und versorgten die Tiere. Schnell kannte Sarah jede einzelne Taube beim Namen, wusste um ihre Vorlieben und Eigenheiten. Im Frühjahr wurden an klaren Tagen einige Tauben eingekorbt, und zu Fuß wanderten die beiden mit einem Handkarren über die Felder in Richtung Alb.
Nach einer ausgiebigen Vesper drängte Sarah zum Aufbruch. Der Auflass der Tauben war der Höhepunkt dieser Ausflüge. Nie versäumte sie es, den Tauben kleine Nachrichten an sich selbst mitzugeben. Auf dem Rückweg beflügelte das Mädchen jedes Mal die Hoffnung, schneller zu Hause zu sein, als die Tauben.
Aber schließlich wurden den jüdischen Züchtern auch die Brieftauben verboten. Er selbst war mit Sarah und drei Alttauben unterwegs zum Flugtraining, als der Bürgermeister mit zwei Helfern kam, um die Brieftauben abzuholen. Sie leisteten ganze Arbeit, nahmen sämtliche Tauben samt Gehege mit und verwüsteten einen Großteil des Taubenschlags.
Zornig und traurig half Sarah, die verbogenen Drähte und das zersplitterte Holz wieder zu reparieren für ihre drei verbliebenen Tiere.
Für Aaron und seine Frau wurden das kleine Haus, das Nichtstun, die Ungewissheit und die zunehmenden Gerüchte über einen Krieg unerträglich. Sie entschlossen sich zur Flucht. Er hatte dem nichts entgegenzusetzen außer seiner Zuversicht, dass ihm in dem kleinen Dorf nichts passieren würde.
Seit drei Tagen waren sie nun unterwegs. Viel hatte er ihnen nicht mitgeben können außer seinen Segenswünschen, etwas Proviant und seine drei Brieftauben. Der Abschied war vielleicht das Schwerste, das er in seinem Leben erlebt hatte. Nun blieb ihm nichts mehr, als zu warten. Zu warten, was weiter passieren würde in Deutschland, und zu warten auf ein Zeichen.
Er saß schon lange auf der Bank, bis er die vertraute Kontur am Himmel sah und das so vermisste Gurren einer Taube hörte. Mit flinken Füßen eilte er zum Haus und stieg zum Dachboden hinauf. Die erste Taube war in den Verschlag zurückgekehrt. Mit zitternden Händen nahm er das erschöpfte Tier, streichelte es liebevoll und fand auch die kurze Botschaft.
Sie waren in Frankreich. Alles war bisher gutgegangen.
Nach weiteren vier Tagen kam die zweite Taube zurück: "Sind an Bord des Schiffes "Hope". Ziel New York. In Liebe A., R. und S." Dankbar streichelte er das vertraute Gefieder und flüsterte immer wieder "Hope! Hope!". So würde sie von nun an heißen.
Auf die dritte Taube wartete er vergeblich.
Iris Otto lebt in Liederbach.
Kerstin Schubert
Himmelsstürmer
"Sie kommt noch!", versicherte Pepe nervös. "Sie muss kommen." Zum hundertsten Mal suchte er den blassgrauen Himmel nach dem vertrauten kleinen Punkt ab.
"Wenn sie nicht bald kommt, stirbt Magda." Orwin lief nervös auf dem flachen Dach auf und ab. "Bist du sicher, dass sie zurückfindet?"
"Natürlich findet sie hier her. Louisa weiß, wo sie zu Hause ist." Pepe wollte die Hoffnung noch nicht aufgeben.
"Vielleicht hat sie den Ritt zur Burg nicht überstanden?"
"Frenzel ist ein erfahrener Reiter, Orwin, er hatte Louisa nicht das erste Mal dabei. Was ich eher befürchte ist, dass der Graf sich geweigert hat, die Entlastungsurkunde zu unterschreiben." Orwin war blass geworden. "Du wirst deine Tochter schon wieder bekommen, keine Sorge."
"Und sobald ich sie wieder in den Armen habe, werde ich dieses verfluchte Land auf dem schnellsten Weg verlassen."
"Was dagegen, wenn ich mitkommen?", lachte Pepe.
"Nein natürlich nicht, aber wenn deine Brieftaube nicht bald hier ist, wird Magda gleich dort unten am Galgen baumeln." Missmutig starrte Orwin über den Rand des Daches auf den Marktplatz hinunter.
"Sie wird kommen!", flüsterte Pepe. "Louisa ist die Beste."
"Es war ein Fehler, eine Brieftaube einzusetzen."
"Hattest du eine bessere Idee? Die Zeit war knapp, und Louisa ist um einiges schneller als Frenzel auf seinem Pferd."
"Wenn ein Sperber oder ein Habicht deine Taube gefressen hat, warten wir hier umsonst."
"Louisa ist meine schnellste Taube, die fliegt jedem Sperber davon, aber du hast Recht, wir brauchen einen Plan, falls es doch zu spät wird. Magda darf nicht sterben."
"Wir rennen auf den Platz, schnappen uns Magda und hauen wieder ab, bevor auch nur einer der Wachleute den Mund aufmachen kann." Orwin grunzte siegessicher.
"Wie kann eine so kluge Frau wie Magda nur einen so einfältigen Vater haben." Pepe stöhnte und hielt eine Hand über die Augen, um den Himmel besser absuchen zu können.
"Die Wachen des Inquisitors werden nicht umsonst als 'Eiserne Mauer' bezeichnet."
"Und was schlägst du vor?", fragte Orwin missmutig.
"Ich werde die Wachen ablenken, und während sie beschäftigt sind, kannst du Magda losschneiden und mit ihr fliehen." Orwin hatte aufmerksam nickend Pepes Vorschlag zugehört, während er über den Rand des Daches beobachtete, wie sich der Marktplatz mit Schaulustigen zu füllen begann.
"Und was ist mit dir?", fragte er nach einer Weile.
"Ich folge euch dann, sobald ich kann." Pepe lächelte schwer.
"Wehe, wenn nicht, ich weiß doch, dass Magda ihr kleines Herzchen an dich verloren hat. Achtung, der Inquisitor kommt, wir haben nur noch wenige Minuten. Wenn deine Taube nicht gleich kommt, musst du dein Ablenkungsmanöver starten!" Mit panischem Blick beobachteten Orwin und Pepe wie ein kleiner, untersetzter Mann den Marktplatz betrat.
Seine Leibwache schlug ihm eine Schneise in die Menge, und Orwin schauderte angesichts der bulligen Männer, die ohne Mühe die Menschen zur Seite schoben. Jetzt betrat Magda den Platz. Die langen braunen Haare, die ihr schönes Gesicht umrandeten, glänzten matt.
"Tu etwas, lenk sie ab!" Panisch schnappte Orwin nach Luft, als die Wachen das an den Händen gefesselte Mädchen die Treppen zum Galgen hinaufdrängten. Pepe nickte, atmete tief durch und trat an den Rand des Daches.
"Willst du da runterspringen?" Orwin starrte ungläubig Pepe an, der soeben die Arme ausbreitete, als wolle er fliegen.
"Ja, die Masse lechzt nach Blut, und der Tumult, den ich auslöse, wird dir genügend Zeit verschaffen, um Magda wegzubringen." Pepe schloss die Augen, ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen. "Mein Leben für ihres!"
"Du scheinst sie wirklich zu lieben." Pepe nickte fast unmerklich und ließ sich langsam nach vorne kippen. Seine schmale Gestalt schwankte ein wenig. Orwin wandte den Blick zum Himmel hinauf, er wollte es nicht mit ansehen. Stattdessen erblickte er eine hübsche kleine Taube, die eilig herbeiflatterte.
"Stopp!", schrie er unvermittelt. "Louisa kommt!" In letzter Sekunde packte Orwin Pepe am Kragen und zog ihn auf das Dach zurück. Keuchend blieb Pepe einen Moment lang liegen. Dann sprang er auf, und noch während er Louisa den kleinen Brief abnahm, begann er zu brüllen und zu schreien. "Halt, sie wurde begnadigt. Stopp!"
Verwundert von dem Lärm hielt der Henker inne, der Magda soeben die Schlinge um den Hals legen wollte. Schreiend und keuchend kämpften sich Orwin und Pepe mit dem Brief hoch über den Köpfen durch die Menge. Missmutig nahm der Inquisitor den Brief mit dem amtlichen Siegel entgegen. Angesichts der tausenden Augen, die auf ihn gerichtet waren, konnte er nicht anders als dem Henker abzuwinken. Louisa hatte es geschafft: Magda war frei!
Kerstin Schubert lebt in Zittau.
Zacharias B. Schwarzkopf
Der blau-rote Witwer
An diesem Sonntagnachmittag isst Papa seinen Kuchen wortlos und schon bald nach dem Mittagessen, wie immer wenn er "reist". Seltsamer Gebrauch des Wortes "reisen", weswegen mich meine Klassenlehrerin tadelte: Wie könne mein Vater "verreisen" ohne selbst wegzufahren? Ich konnte ihr nicht erklären, dass es sich um eine besondere Verwendung des Wortes unter Brieftaubenzüchtern handelt. So weit reicht der Mut eines schüchternen Sechsjährigen im Jahr 1964 nicht.
Kaum hat er ein Stück seines selbstgebackenen Käsekuchens gegessen und eine Tasse Kaffee getrunken, geht mein Vater die Holztreppe unseres Hauses hinauf, zieht die Speicherleiter herunter auf den Treppenabsatz im ersten Stock und verschwindet in seinem Taubenschlag. Das Rattern und Quietschen der ausfahrbaren Leiter wird für die nächsten Stunden das Letzte sein, was man von Papa hören wird. Und das Heiligtum dort oben hinter der Dachluke darf ich ausgerechnet heute nicht betreten. Still sitzt er dort, den Blick auf einen Punkt am Horizont geheftet, wo der dicht bewaldete "Aussichtsberg" die südöstliche Grenze unserer kleinen Welt bezeichnet.
Uns gilt der Talkessel mit seinen Gärten, dem Bachgrund, den Äckern und Wiesen an diesem Stadtrand genauso als unverrückbare Heimat wie den 44 Brieftauben, die an diesem Nachmittag nicht wie sonst ihre eleganten Kurven über dem Haus fliegen dürfen. Dann saust der ganze Schwarm bald hier hin, bald dort hin, schießt mit atemberaubender Geschwindigkeit auf Hausdächer und Kamine zu, ändert plötzlich die Richtung, wobei immer wieder eine andere Taube die Führung übernimmt.
Sie scheinen gegeneinander zu wetteifern und zugleich ihre Wendigkeit und Sicherheit einzuüben. Kein Habicht, ja nicht mal ein Falke vermag sie im Schwarm zu überlisten. Vater und Sohn sitzen oft stundenlang in schweigender Eintracht am Dachfenster, die Tauben bei ihren gewagten Kunststücken beobachtend. Nur heute darf ich nicht die Leiter hochklettern, um mit meinem Vater bei all dem Rrrugidiguh, den dicht an mir vorbeiflatternden Schwingen und in dem wohlig warmen, aber etwas beißigen Geruch den Nachmittag zu verdösen.
"Der Papa hockt bei seinen Gruhzern", erklärt die Mutter einem Kameraden, der anruft, um mitzuteilen, dass der Auflass in Budapest wegen Schlechtwetter nicht um sechs Uhr früh, sondern "Punkt Acht" stattgefunden hat.
1203 Brieftauben aus unsrem Verbandsbezirk sind aus einem eigens dafür gebauten Tauben-Lkw aufgelassen worden, haben den Ort wenige Male umkreist, bis sie in etwa 150 Metern Höhe auf geheimnisvolle Weise trotz bedeckten Himmels beinah schnurgerade ihr Zuhause ansteuerten. "Eine Taube kommt nur nicht zurück, wenn sie der Habicht holt", sagt der Vater immer. Zudem liegen auf diesem Weg die Flughäfen von Wien und Nürnberg/Fürth und der Bayerische Wald, gefährlich bei der heutigen Wetterlage.
Darf ich nicht zu Papa, weil er einen erst "jährigen" Täuber eingesetzt hat, der noch zu scheu ist, um bei meiner Anwesenheit in den Schlag zu kommen, wo Papa ihm den Gummiring abstreift, in eine metallene Konstatierhülse steckt und sofort in der Taubenuhr registriert, die die Ankunft des bestimmten Vogels nachweist? Der braune Holzkasten wird noch Jahrzehnte in meinem Elternhaus stehen, mit rostigen Metallverschlüssen und brüchigem Lederhandgriff, ein Gegenstand, der die frühen Jahre meiner Kindheit ebenso konstatiert, wie die Flugzeiten der Tauben – nur die Stempel auf den Ringhülsen werden auch dann noch klarer lesbar sein als die Schrift der Taubenuhr in meinem Gedächtnis.
Pfingstsonntag, 17. Mai 1964: Papa sieht einen schwarzen Punkt am Himmel. Zuerst so undeutlich, dass er sich die Augen reibt, einen Blick auf das Grün des Waldes wirft, dann wieder jenen Punkt sucht, der sich zu bewegen scheint. Wie ein Jäger kneift mein Vater die Augen zusammen, greift nach dem Schlüssel der bereitstehenden Taubenuhr, steckt ihn in die Uhr und hofft. Ist das etwa sein "Blau-Rot-Vochel"? Auf ihn hat er alles gesetzt, ihn entgegen dem Rat seines älteren Bruders alleine auf die Reise von 812,534 km Länge geschickt, in dem Vertrauen, dass der Täuber eilends zur von ihm getrennten Taube zurückkehren wird.
Er ist es. Der blau-rote "Witwer" nähert sich dem Haus in großer Höhe, stürzt plötzlich steil herab, segelt, stürzt wieder, und schwingt sich auf den Dachfirst.
Mein Vater nimmt eine Hand voll Körnern, schiebt eine Wasserschale näher an den Fenstersims, und beginnt leise zu singen: "Komm, kohmm, grru-gruuh." Das Uhrwerk knackt: 16:03 Uhr. Der Täuber fliegt schneller als ein ICE der sechziger Jahre diese Strecke fährt. Das bringt gutes Preisgeld.
Ich habe am Fuß der Leiter auf das Knacken der Uhr gewartet. Nun wage ich mich auf die Sprossen der steilen Leiter, die ich nur im Beisein meiner Eltern betreten darf. Am Austritt zum Speicher segelt eine Daune durch die nach Tauben riechende Luft. Oben angekommen erstarre ich: Papa steht vor der geschlossenen Tür des Schlages und bückt sich über eine der großen Blechschüsseln, eine "Wäschprenke", in denen wir als Kleinkinder oft im Sommer auf dem Hof badeten. Sie ist voll toter Tauben. Papa bemerkt mich und dreht sich weg, aber ich habe für einen Moment lang sein Gesicht gesehen.
Nachdem ich hastig die Leiter wieder hinuntergestiegen bin und mich aus Angst vor Prügel oder vor weiterem Schrecken in der Küche herumgedrückt habe, stellt mich meine Mutter zur Rede. Auf mein gestammeltes Geständnis sagt sie nur: "In der Nacht hat ein Wiesel 17 Tauben totgebissen. Er hat noch nicht mal alle ausgesaugt. Ich habe Papa gesagt, er soll sie braten, aber er will sie partout nicht essen."
Diesen Sonntag, in jenem Moment auf dem Speicher, habe ich meinen Vater zum ersten Mal weinen gesehen. Auch das Weibchen des blau-roten Witwers ist tot. Nun verstehe ich das Wort "reisen" ein wenig besser.
Zacharias B. Schwarzkopf lebt in Berlin.
Cleo A. Wiertz
taube
in der schale meiner hände
empfange ich behutsam
den mazedonischen gast
seidenzart
schmiegt sichs hinein
pochenden herzens
spüren wir einander
über sechs jahrtausende
kommst du zu mir
coriolische botin
sechs jahrtausende
unbeirrbaren flugs
nach hause
immer
nach hause
warum kann ich nicht
wie die taube heimgehn
warum empfängt mich
nie mehr eine warme hand
und flüstert zärtlich
willkommen
Cleo A. Wiertz lebt in Klingenthal in Frankreich.
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Und nun viel Spaß mit den Brieftaubengeschichten!