Brieftaubengeschichten 2013


Vorwort

62 Einsendungen sind zu unserem diesjährigen Schreibwettbewerb bei uns eingegangen: von Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Österreich, Spanien und der Schweiz.
Nun kommt bei uns fast ein bisschen Wehmut auf, denn dies war (auf absehbare Zeit) das letzte Mal, dass wir unseren Wettbewerb veranstalteten. Man soll ja, wie der Volksmund sagt, aufhören, wenn es am schönsten ist, aber wir haben auch festgestellt, dass sich das Thema nach vier Wettbewerben innerhalb von fünf Jahren ein wenig "auserzählt" hat.
Für alle, die unsere Ausschreibung bis dahin noch nicht kannten: Gesucht waren gut geschriebene Kurzgeschichten und Gedichte, die ausdrücklich von Brieftauben handeln, also von Tauben, die (mit einer Botschaft oder im Rahmen von Wettflügen) nach Hause fliegen. Viele Einsender haben diesen Umstand in ihren Texten nicht berücksichtigt, andere Beiträge waren deutlich zu lang. Einzelne Texte waren wohl spannend geschrieben, enthielten dann aber, was zum Beispiel die geschilderte Aufzucht, Haltung oder Versorgung von Brieftauben anging, so viele gravierende Fehler, dass wir sie auch nicht berücksichtigen konnten. Folgenden Fehler haben wir gelten lassen: Brieftauben fliegen nicht durch die Nacht, maximal in die Dunkelheit hinein, bis sie sich dann doch einen Rastplatz bis zur Morgendämmerung suchen. Dieser Umstand ist für Nicht-Brieftaubenzüchter jedoch nur schwer zu recherchieren.
14 Beiträge haben es am Ende in unsere Siegerliste geschafft und werden, gemeinsam mit den Siegertexten des Jahres 2012, im Taschenbuch "Neue Brieftaubengeschichten" veröffentlicht.
Drei Beiträge werden zusätzlich mit unserem Brettspiel "RV-Meisterschaft" ausgezeichnet. Und eine Autorin, Margret Fiedler aus Siegen-Seelbach, ist die Gesamtsiegerin unseres Wettbewerbs und erhält als Zusatzpreis die Erstellung eines E-Books aus ihren eigenen Texten. In ihrer klug erzählten Kurzgeschichte "Wir und die Taube: einmal hin und einmal zurück" schildert sie ebenso unterhaltend wie sachkundig, wie eine Brieftaube auf ihrem Heimflug strandet und von Urlaubern aufgepäppelt wird, ehe sie ihren Flug beenden kann. Herzlichen Glückwunsch zu dieser schönen Geschichte!


Margret Fiedler

Wir und die Taube: einmal hin und einmal zurück

Einmal hin, das waren wir: Ehepaar mit Hund auf der Flucht vor dem Umzugsstress. Aus der alten Wohnung raus, ins neue Haus rein, stolpern über Kartons, gerade mal Strom und Telefon angeschlossen, Formulare – Formulare, und nur den einzigen Wunsch: raus hier.
Kurz entschlossen Geld und Urlaubstage (die restlichen) gezählt, wenn noch ein Zimmer frei sein sollte, auf nach Baltrum, unsere Lieblingsinsel.
Auf der Fähre hatten wir schon Herzklopfen, Glücksgefühle und den festen Vorsatz: keine neuen Bekanntschaften, keine Verpflichtungen - nur Ruhe, Natur und Laufen, den weiten Meerblick und die Wellen genießen.
Am ersten Morgen in aller Frühe, als die Luft klar und kalt war, die plötzlich aufgehenden Sonnenstrahlen uns blendeten und noch kein Inselgast am Strand herumspazierte, gingen wir aufgeregt, glücklich und frei atmend (sogar der Hund bekam weite Seeluftnüstern) zum Strand, und da sahen wir – unser Strandkorb war schon da, aber auf dem Korb saß ein Vogel, eine Möwe?, nein, eine Taube, sie sah matt und schwach aus, nach dem Sturm der vergangenen Tage.
Als wir näher kamen, sahen wir, sie war beringt, also wohl keine heimatlose Wildtaube! In aller Eile mit dem hechelnden Hund zum Hotel zurück.
Wer weiß was über beringte Tauben? Baltrums einziger Polizist, der Sheriff, hatte Tauben (o Wunder): "Gib ihr Wasser und Taubenfutter, das gibt's im Supermarkt. Ich gebe euch schon etwas von meinem Futter, der Laden hat noch nicht auf."
Zwei Schüsseln vom Hotelier, Wasser aus der Flasche, Futter in aller Eile auf den Sand der Taube vor die Füße gestreut, Wasser daneben in eine Schüssel gegossen und nun wir zwei Menschen und der Hund aus einiger Entfernung gespannt zugeschaut: Was passiert?
Die schwache Taube schwang sich auf, nahm vorsichtig vom Futter, ruhte sich aus, und dann trank sie tröpfchenweise vom Wasser. Danach zog sie sich wieder auf ihren Beobachtungsposten am Rand des Strandkorbs zurück.
Soweit ging alles gut, bis mittags unsere Strandkorbnachbarn erschienen und sich beschwerten: "Was ist denn das, Tauben gefährden unsere Gesundheit, wo gehört sie hin?" (Ergänzend unwillig: "Hat man denn nicht mal im Urlaub seine Ruhe?")
Unsere Antwort: Wir haben die Taube adoptiert, sie darf in unserem Strandkorb wohnen, wir haben für uns noch einen dazu gemietet, damit sie nachts in "ihrem" Korb schlafen kann, sicher vor den Möwen.
Unser Hund wusste, ab sofort gehört sie zum Rudel. Wenn sich eine Möwe neugierig näherte und ihr das Futter wegnehmen wollte, scheuchte unser Hund sie mit einem kurzen wuffwuff hinweg. Auch unsere Korbnachbarn versöhnten sich mit der Situation und verfolgten mit Interesse und Neugier die Entwicklung.
Die Taube wurde zahm und setzte sich auf unseren Arm. Wir konnten somit die Ringbotschaften entziffern, den Besitzer telefonisch informieren und ihm das Versprechen abnehmen, seine Brieftaube am Leben zu lassen, wenn sie heimflöge – sie war ja durch den Sturm zu später Rückkehr gezwungen worden und somit "entschuldigt".
Unser erschlichener Urlaub dauerte zehn Tage, die Taube wurde kräftiger und kühner und wagte somit schon kleine Rundflüge, kam aber immer artig zum "Schlag" zurück.
Am achten Tag wartete sie noch unseren Besuch ab, dann gurrte sie glücklich, wie wir glaubten, erhob sich vorsichtig, drehte noch versuchsweise eine Runde über den Strand und flog davon über das Meer nach Hause.
Wir hofften inbrünstig, dass der Besitzer sein Versprechen halten würde.

Margret Fiedler lebt in Siegen-Seelbach.

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Heinz-Helmut Hadwiger

STILLE POST – TAUB-STUMM

Vermutlich werden Sie's nicht glauben:
Ich züchte hingebungsvoll Tauben,
nicht, um sie als Delikatessen,
solang sie zart sind, aufzuessen,
vielmehr für äußerst exklusiven
Transport von Nachrichten und Briefen,
nicht um die Flugpost zu ersetzen,
noch, um die Vögel aufzuhetzen,
dass sie an Anstrengungen sterben,
nein, nur zu Flugsportwettbewerben!

Ich bring sie an den Abflugort,
erst nach dem Auflass sind sie fort
und fliegen – sei's bei Nacht, bei Tag –
direkt zu ihrem Heimatschlag.
Bei Wettbewerben misst man dann,
wer ihn zuerst erreichen kann.
Will man darüber noch hinaus,
dann sucht man ein Behältnis aus
und steckt ein Zettelröllchen rein,
am Rücken festgemacht, am Bein.

Wie die Distanz sie überwinden,
wie in den Heimatschlag sie finden,
darüber gibt es Theorien:
Wie Zugvögel nach Norden zieh'n
und umgekehrt nach Süden flögen.
Das liegt am Heimfindevermögen!
Orientiert trotz weiter Ferne
am Stand der Sonne und der Sterne,
entlang der Erde Magnetfeld
die Brieftaube den Kurs einhält.

Man glaubt, sie habe Nervenzellen,
um so im Direktflug, im schnellen,
ihr Ziel verlässlich zu erreichen.
Und man entdeckte auch Anzeichen:
Der Sensor dafür, admirabel,
befinde sich in ihrem Schnabel,
und Eisenoxyd, Magnetit
wie Maghämit, die spielen mit.

Die neue Forschung aber meint,
es sei ganz anders, als es scheint:
Dass sie die Fährte nicht verlor,
bewirkt allein ihr Innenohr.
Magnetfeldstärke messen die Neuronen
in einer Brieftaube vier Hirnregionen,
und so gelangt wie mittels Kompass
das "Luftrennpferd" zurück vom Auflass.
Auch wenn der Mensch es kaum erfass'.

Dr. Heinz-Helmut Hadwiger lebt in Linz und Weitersfelden, Österreich.

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Michael Schelhorn

Flattern!

"Brieftauben beklemmen mich", sagte ich und verzog keine Miene. Der Chefredakteur sah mich etwas verständnislos an.
"Du schaffst das schon! Das liegt dir", sagte er in seiner altväterlichen Art, die ich hasste wie der Diabetiker die Süßstoffschokolade. Als freier Mitarbeiter musste ich froh sein, wenn überhaupt etwas für mich dabei war, Ansprüche brauchte ich keine anzumelden, denn wer nicht schreibt, isst nicht. Ich hatte demnach keine Wahl. Der örtliche Brieftaubenzuchtverein hatte Tag der offenen Tür, und ich durfte ein Interview machen mit den Eignern der schnellen Henriettes und der blauen Lolas, oder wie das Federvieh sonst wohl heißen mochte. Mit schier unfassbarer Neugierde schwang ich mich auf mein Moped. Ich hasste es, Berichte über Selbsthilfegruppen zu schreiben, und diese ewiggestrigen Luftpostanachronisten würden da keine Ausnahme manchen, so viel stand fest.
Auf der Fahrt dachte ich weiter über Brieftauben nach, was mich einfach nur melancholisch machte. Ich dachte an Männer im mittleren Lebensalter, die sich in einen Winkel des Dachbodens zurückgezogen hatten, in der sie sich frei von Computertechnik und Frauen ganz ihrem Laster ergaben. Vogelfreaks waren vermutlich die einsamsten Nerds, die man sich vorstellen konnte. In mir stieg die Vorstellung eines Graupensuppe essenden Mittfünfzigers in fleckiger Stoffhose und blauem Arbeitskittel Typ Hausmeister auf, der nach Braunkohle und Zigarren roch, nikotingelbe Zeigefinger und Haarbüschel in Nase und Ohren hatte und die Ringnummern seiner Tauben sowie die Wettquoten auswendig wusste. Da schwang für mich so eine schnapsgetränkte Seligkeit mit, etwas war da, das ich nicht begreifen konnte und worüber ich den Kopf schütteln musste. Eine Brieftaube fliegt immer nur nach Hause, nie zu jemand anders. Ich kann deswegen, strenggenommen, nur Briefe an mich selbst schreiben oder dies jemand anderem auftragen; wie traurig war das denn eigentlich? Wer wollte schon eine E-Mail-Adresse, deren einzige Funktion es wäre, sich selbst zu benachrichtigen, und sei es auch von anderswo? Ich stellte das Moped auf dem Parkplatz vor der Sporthalle ab, in welchem der örtliche Brieftaubenzüchterkongress Hof hielt. Ich hängte mir die Kamera und die Objektivtasche um und machte mich auf den Weg zum Empfangstresen, wo bereits mehrere Taubenbegeisterte irgendwelche Formulare ausfüllten. Vermutlich waren es Vogelhaarallergieerklärungen. Eine streng aussehende ältere Dame im grünen Hosenanzug begrüßte mich. Ihr langes rotes Haar musste ihrer hellen Haut und den zu Altersflecken mutierten Sommersprossen zufolge irgendwann einmal original gewesen sein. Ich hielt ihr den Presseausweis hin, und sie blickte mich freundlich durch ihre etwas gouvernantenhaft anmutende Schildpattbrille an.
"Ah, der Reporter. Das ist ja sehr erfreulich."
"Sind Sie auch Züchterin?"
"Der Brieftaubensport ist das Hobby meines Mannes. Aber da ich eine gute Ehefrau bin, helfe ich ihm bei seinem Sport und unterstütze ihn dabei."
"Ihr Mann muss sehr glücklich sein." Ich stellte mir vor, wie sie am Herd stand und für ihn Graupensuppe kochte.
Einige Momente später hatte sie ihren Mann herbeigewunken, einen schlohweißen Braungebrannten mit militärischer Kurzhaarfrisur, der in Anzug und Krawatte die geschäftige Professionalität des hochgeachteten Vereinsvorsitzenden ausstrahlte. Nachdem er sich vorgestellt hatte, führte er mich durch die Reihen der Aussteller, wobei er sich über die Geschichte der Brieftaubenzucht ausließ und den mangelnden Nachwuchs an Jungzüchtern beklagte. Das meiste von dem, was er sagte, ging an mir vorbei. Das Gurren und Flattern der ausgestellten Tauben bildete einen konstanten Klangteppich, der irgendetwas nicht Fassbares in meinem Hirn auslöste. Ahnten diese Vögel etwa, warum man hier solch einen Trubel um sie machte? Konnten sie sich etwa darüber verständigen?
Wir hielten vor einigen U-förmig angeordneten Tischen, auf denen mehrere prämierte Tauben ausgestellt waren. Der Vorsitzende erklärte mir langatmig, nach welchen Kriterien die Jury ihre Entscheidung getroffen hatte. Aber das interessierte mich schon längst nicht mehr.
Als ich ihr zum ersten Mal in die Augen blickte, wich sie meinem Blick aus und legte den Schnabel kokett über ihre Schulter. Sie hatte Stil. Klasse. Ich bewegte mich auf den Käfig zu, doch sie drängte sich an dessen Rückwand, wobei sie meinem Blick standhielt. Ich machte einen Schritt zurück, und sie kam mit durchgedrückter Brust auf mich zu. Das konnte nicht wahr sein. Ich legte den Kopf auf die linke Schulter, sie legte ihren nach rechts. Sie kommunizierte mit mir. Einzig das Käfiggitter trennte uns. In diesem Augenblick geschah es: Ich spürte zum ersten Mal in meinem Leben, wer ich wirklich war.
Auf dem Rückweg zur Redaktion traf ich meinen Chefredakteur, der gerade in seinen Sportwagen stieg. Auf seine Frage, was sich denn in der großen, auf meinem Gepäckträger festgeschnallten Kiste befand, gab ich keine Antwort.

Michael Schelhorn lebt in Hamburg.

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Karolin Eberle

Der Typ mit den Tauben

Über der Freilichtbühne liegt der Geruch von frischer Farbe, von Holz und künstlichem Nebel. Ich höre die Stimmen über die Lautsprecher, noch bevor ich jemanden sehe. "Muss ich das unbedingt nochmal machen? Ich fand's jetzt gut so." Wo ist mein Ansprechpartner? Die Zuständigen haben nie wirklich Zeit für Fragen, obwohl doch angekündigt ist, dass jemand von der Zeitung kommen wird. Nach einigen Terminen für die Serie über Schultheater kenne ich das schon. Der ältere Herr mit den bis über den Bauchnabel hochgezogenen Stoffhosen muss mein Ansprechpartner sein. Er drückt mir zur Begrüßung einen selbstgezeichneten Flyer in die Hand. "Taubenpost und Silberschuh - eine Aschenputtelgeschichte." Na dann. Etwas abseits setzte ich mich auf die erhöhten Ränge, sage, ich will einfach mal ein bisschen zuschauen, wie die Probe abläuft, und wie immer denke ich, das hier soll schon eine der Hauptproben sein?
Es ist nicht leicht, für jede Folge dieser Serie etwas Neues zu schreiben. Für den heutigen Termin hat die Redaktion immerhin irgendetwas mit echten Brieftauben angekündigt. Trotzdem. Brieftauben. Ein Hobby wie Modelleisenbahn oder Amateurfunk? Was soll ich dazu schreiben? Mein Smartphone verrät mir nichts zum Thema "Brieftaube". Ich bekomme hier draußen keine Internetverbindung.
Die Schüler, die hier mehr oder vermutlich eher weniger freiwillig ihren Nachmittag verproben, könnten optisch alle aus einer der vielen Castingshows stammen. Sie sitzen auf den Lehnen der roten Holzbänke und lachen über diejenigen, die bereits kostümiert auf der Bühne stehen. Der Lehrer wedelt mit dem Textbuch, schaut auf die Uhr, hebt die Hände. "Alle mal herhören, auch die, die schwerhören!" Lehrerwitze! Die meisten waren schon abgedroschen, als ich selbst noch in die Schule ging. Stimmbruchstimmen schreien durcheinander. "Seid mal leise! Es gibt noch eine Überraschung heute!" Das Gelächter nimmt tatsächlich ab, Überraschung war wohl das Stichwort. "Ich lasse mal die Katze aus dem Sack und hoffe, dass sie nicht gleich wieder reingeht." Lehrersprüche die Zweite. "Der Mann mit den Brieftauben ist heute auch zur Probe gekommen. Das wird nochmal ein ganz toller Effekt, wenn wir die Tauben am Schluss fliegen lassen!" "Echt jetzt, die leben?", quietscht eine Schülerin. "Tauben sind eklig und fett!", grölt eine andere. "Die haben verkrüppelte Füße!" "Und Krankheiten können die auch haben!" Ich denke an die schmutziggrauen, dicken Vögel, die vor meinem Wohnblock wie Hühner auf der Wiese picken und so schwerfällig sind, dass sie nur ein paar Meter flatschern, wenn man sie aufscheucht. Kein Wunder, dass die Jugendlichen hier nicht so drauf stehen. Über den knirschenden Kies kommt ein Mann – derselbe Typ wie der Lehrer – mit einem Käfig. Neugierig strecken sich mehrere Schnäbel durch die Gitter, zucken Köpfchen hin und her. Die sind ja gar nicht weiß. Als Kind hatte ich in meinem Sammelalbum einen Brieftaubenaufkleber. Eine weiße Taube mit einem Umschlag im Schnabel, auf dem ein rotes Herz prangte. Diese hier sind hellgrau und schillern an den Seiten lila und grünlich. Einige Jugendliche nähern sich dem Käfig, kichernd und sich gegenseitig in die Seite stoßend. Der Tauben-Mann öffnet das Türchen und nimmt einen Vogel auf seine Hand. Die Taube tänzelt ein wenig, schaut mit schief gelegtem Köpfchen misstrauisch und gleichzeitig neugierig. Während die meisten Schüler bereits wieder dazu übergegangen sind, miteinander zu flüstern oder sich gegenseitig die Mützen vom Kopf zu reißen, erklärt der Mann, dass die Tauben direkt zurück zu ihrem Schlag fliegen, wenn er sie frei lässt. Das hatte ich nicht gewusst, und ich hatte mir auch noch nie Gedanken darüber gemacht, wie Tauben überhaupt ihr Ziel finden. Schön sieht es schon aus, wie sie jetzt aufsteigen, flitzend als silberne Pfeile vor dem blauen Sommerhimmel. Schnell sind die! Die Schüler ziehen bereits ihre Kostüme aus, stopfen die Textbücher in ihre Rucksäcke. Ich verabschiede mich auch.
Am Abend tue ich mir schwer mit dem Schreiben des Artikels. Ich finde keinen Aufhänger. Man fängt mit der Information an, die man einem Freund als erstes erzählen würde, habe ich gelernt. Brieftauben fliegen immer nur nach Hause? Bei google finden sich erstaunlich viele Links zum Thema Brieftauben. Jetzt lese ich, dass es bis heute nicht geklärt ist, wie sich diese Vögel orientieren können. Ich lese, dass daran immer noch geforscht wird, und dass sich Brieftauben vermutlich am Magnetfeld der Erde orientieren, und dass das Innenohr der Sitz des magnetischen Sinnes sein könnte. Ich finde Bilder des Brieftaubendienstes der Schweizer Armee, lese, dass Reuters seinen Nachrichtendienst mit Brieftauben begann. Ich lerne, dass Brieftauben bis 100 km/h schnell fliegen und über Strecken von 1000 km wieder heimfinden. Ich lese von Wettflügen und der weltweiten Verbreitung des Brieftaubensports. Vor mir tauchen Bilder auf von Tauben, die kleine Röhrchen mit strategischen Informationen transportieren, schnell und leise wie ein Spion, über Grabenkämpfe, Stacheldraht und Feindesland hinweg. Nicht aufzuhalten, grenzenlos, international. Nicht zu kontrollieren wie Telefon oder Internet.
Ich rufe den Lehrer nochmal an.
"Der Mann mit den Tauben? Der kommt nicht mehr. Das war dem zu stressig hier mit den Schülern." Ich lege auf und spüre meine Enttäuschung.

Dr. Karolin Eberle lebt in Frankenthal.

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Matthias Hockmann

Briefing und Taube

"Bei einem Briefing handelt es sich um eine Kurzeinweisung, in Klammern Kurzbesprechung, vor einem wichtigen Ereignis."
"Wo steht das?"
"In der Wikipedia", antwortete Barbara und legte ihr Ipad zurück auf den Schreibtisch. Sie lächelte mild.
"Seltsam... das scheint mir ein Anglizismus zu sein."
Thomas schrieb sich die Definition auf, während Barbara eines der alten Lexika aus dem Bücherregal zog.
"Isses auch."
Sie blätterte sich vor bis zum Buchstaben B und las:
"Brief... Brief... Brief... von Briefings steht hier nichts. Vermutlich ist das Lexikon zu alt."
Sie klappte das kompakte Buch mit dem schweren Papier wieder zu und stellte es ins Regal zurück. Etwas Staub wurde dabei aufgewirbelt.
"Egal. Ich wollte auch nur wissen, ob Briefings irgendwas mit Tauben zu tun hat", sagte Thomas und stand auf. "Offenbar nicht."
"Zu tun haben."
"Was meinst du?"
"Briefings ist der Plural von Briefing."
"Ach, was."
"Hab ich ja gerade gelesen."
"Ich bewundere ja immer wieder, wie souverän du mit all dem Technikkram umgehst, Schatz. Dank dir!"
Thomas drückte ihr einen Kuss auf die Wange und schnappte sich den Zettel, auf dem er die Definition für Briefing notiert hatte. Dann spurtete er aus dem Haus.
"Bring bitte Milch mit, wenn du noch zum Supermarkt gehst!", rief Barbara ihm hinterher.
"Mal seh'n", brummelte Thomas und flitzte mit dem Zettel in der Hand zur Scheune.
"Hallo, Hermes", begrüßte er den Vogel.
Hermes war eine bläulich pigmentierte Brieftaube, die ihm vorgestern zugeflogen war. Mehr oder weniger. Das Tier fiel in die Gattung der Felsentauben, war geringt und gehörte irgendeiner Brieftaubenzüchterin im Osten, wie sich gestern herausstellte. Die war lustigerweise taub. Eine taube Brieftaubenzüchterin.
Hatte Barbara jedenfalls im Internet nachgeschlagen, auf einer Seite, wo sich entflogene Vögel ihren Besitzern zuordnen ließen, wenn man die Ringnummern in einer Suchleiste eingab. Thomas verstand nichts von solchen Methoden.
Thomas verstand auch nichts von Tauben. Er konnte nicht einmal wirklich sagen, ob das Tier nun besonders schön war. Aber als Hermes am Dienstag in der Scheune festsaß, erinnerte sich Thomas an die alten Geschichten, die sein Großvater ihm erzählt hatte. Das waren Geschichten über Zeiten, in denen es noch keine elektronische Post gab. Die Menschen damals waren größtenteils arm und tauschten Informationen über Brieftauben aus. Zum Transport einer Botschaft brachte man eine Brieftaube von ihrem Heimatschlag an den Abflugort. Man rollte einen Zettel zusammen, steckte ihn in ein Behältnis, und das Behältnis wiederum befestigte man am Fuß oder Rücken der Taube. Sie fand den Weg zurück alleine. Ohne Navigationsgerät. Rein intuitiv.
Als Thomas so in seinen Bewunderungen für die Genialität dieses Prinzips schwelgte, erkannte er in Hermes seine Chance, die Zeit zurückzudrehen. Für ein paar Sekunden nur, aber immerhin. Er wollte einfach einmal wissen, wie es war, jemandem eine Textnachricht über eine Botentaube zu übermitteln. Und am Liebsten wollte er dabei ein König sein, der einem anderen König den Krieg erklärt. Oder endlich Frieden. Auf jeden Fall irgendetwas Höchstbrisantes, damit das Schicksal einer ganzen Nation an eben dieser einen Taube hinge.
"Der König von heute verschickt bloß noch seine Emails", dachte Thomas und fand es schade, dass Tiere im derzeitigen Kommunikationssystem keinen Platz mehr hatten. Er hasste die Entwicklung des globalen Netzwerkes. Es brachte die Menschen auseinander statt zusammen.
Barbara belächelte ihren Mann wegen dieser Einstellung, zugleich aber liebte sie ihn auch dafür. Er war in vielerlei Hinsicht intuitiver als sie, was ihm allerdings im Laufe der Jahre egal geworden war. Wegen des Jobs. Und des Geldes.
Doch in diesem Moment wollte sich Thomas einfach daran erinnern. An dieses Gefühl, ein Teil von etwas Großem und Wichtigem zu sein.
Leider fiel ihm partout nicht ein, was er der Brieftaubenzüchterin (denn zu ihr würde die Taube ja wohl zurückkehren) hätte schreiben können. Deshalb beschloss er, seiner Intuition folgend, das Wort Briefing auf einem Zettel zu notieren. Einfach nur Briefing.
Weil er sich aber nicht ganz sicher war, was das Wort überhaupt bedeutete, befragte er Barbara in einer kurzen Besprechung dazu, und würde nun einer tauben Brieftaubenzüchterin im Osten eine Taube zuschicken, die einen Zettel bei sich führt, auf dem in knapp 140 Zeichen das Wort Briefing definiert wird.
"Was für ein Unsinn", dachte Thomas und bedauerte insgeheim, dass er nichts Bedeutenderes zu Papier gebracht hatte. Barbara hätte die Nachricht vermutlich als informatives Bonbon bei Twitter gepostet.
"Die Welt hat schon 'nen Vogel", sagte Thomas zu Hermes und schob den zusammengerollten Zettel in das Behältnis, das er daraufhin am Fuß der Taube befestigte. Sie schlug wild mit den Flügeln nach ihm aus und flatterte aufgebracht davon.
Thomas fühlte sich noch genauso wie vorher. Er hatte die Zeit nicht zurückgedreht. Auch nicht für ein paar Sekunden. Die Taube verschwand wie eine Email.
Etwas enttäuscht trottete Thomas zum Supermarkt, um Milch einzukaufen, und für die Ironie der ganzen Geschichte blieben seine Ohren taub.

Matthias Hockmann lebt in Köln, OT Mülheim.

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Stephan Hollmann

Die Ruhrgebietsliebe

Nachmittags war er der erste Gast. Er hockte auf dem Barhocker an der Theke, drehte mit der linken Hand das Bierglas ständig in die gleiche Richtung, während die Rechte den Kopf stützte. Dann und wann seufzte er tief und wischte sich eine winzige Träne vom Nasenflügel.
Klaus, der Wirt vom "Bierstübchen", schaute kopfschüttelnd zu seinem Dauergast, dem Rentner Jupp Kaminski. Der mit hängenden Mundwinkeln und rotgeweinten Augen alles andere aussah als ein zufriedener Ruheständler. "Hab dich mal nicht so", bemerkte Klaus nach einem herzzerreißenden Seufzer. In dem Moment kam ein Trupp Monteure von der nahegelegenen Baustelle herein, verteilte sich an den Tischen und bestellte lautstark zu essen und zu trinken.
Jupp trank den letzten Rest Bier aus, "Dann will ich mal los und von ihr Abschied nehmen", Klaus nickte und hielt Biergläser unter den Zapfhahn. Jupp griff nach der schwarz-gelben Plastiktüte, als sich ein junger Monteur mit den Ellbogen auf die Theke stützte.
"Wie", fragte er, "von wem willste Abschied nehmen?" Klaus kam Jupp zuvor: "Der hat einen Trauerfall zu beklagen!" "Oha, jemanden aus dem engeren Kreis?", fragte der Monteur vorsichtig nach. Jupp setzte sich wieder auf den Barhocker, die Plastiktüte noch in den Händen. Er drehte seinen Kopf im Zeitlupentempo zu dem Monteur in dem blauen Overall, "War mein Herzblatt, meine Jolante, plötzlich gestorben." Der Monteur machte einen betrübten Gesichtsausdruck, "das habe ich nicht geahnt, dann mein herzliches Beileid." "Davon wird sie auch nicht wieder lebendig", spottete Jupp. "Ja doch, aber das sagt man doch so", versuchte sich der Mann zu verteidigen.
Klaus fragte den Gast was er haben möchte. "Bockwurst und Kartoffelsalat und ein Bier, ach und gib dem Witwer auch eins", und dann zu Jupp gewandt, "Ich darf dich doch einladen?" "Ja, sicher, danke." "Ich bin der Jürgen", und er hielt Jupp seine klobige Hand entgegen. "Jupp", sagte der nur knapp.
Jürgen schaute schnüffelnd an seinem Overall herunter. "Irgendetwas stinkt hier." Bemerkte er. "Ich rieche nichts!", antwortete Jupp. Dankbar über das ausgebende Bier richtete er seine Aufmerksamkeit an seinen neuen Bekannten. "Weißt du", begann er, "meine Jolante war die Beste weit und breit, selbst wenn sie tausend Kilometer entfernt waren, immer kam sie nach Hause, sie war immer da." Die letzten Worte schluchzte Jupp vor sich hin, zog ein Taschentuch, schnäuzte sich ausgiebig. Mitfühlend schaute Jürgen, fast hätte er ihm seine Hand auf die Schulter gelegt, so nah ging ihm dieser Gefühlsausbruch. 'Irgendwie riecht doch hier etwas eigenartig', dachte Jürgen, hob zur Sicherheit die Schuhe hoch, ob eventuell an der Sohle etwas klebte.
Jupp steckte das Taschentuch weg und förderte einen messingfarbenen Ring hervor, hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hoch, "Schau mal, den habe ich ihr letztens noch gekauft." Klaus, immer noch am Zapfen, zog die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. "Ach ist das romantisch, hast ihr noch einen Ring gekauft!", meinte Jürgen verträumt. "Ja, meine Jolante", Jupp betrachtete gedankenverloren den Ring, "sie war die Schönste und Beste aus ganz Bottrop, ach was sage ich, aus dem ganzen Pütt, alle haben sie bewundert, besonders der Kalle aus Recklinghausen, richtig neidisch war der immer, die gebe ich nicht her, habe ich zu ihm gesagt noch kurz vor ihrem Tod." Wieder wurden seine Augen feucht.
"Könnte es sein, dass der etwas mit dem Tod zu tun hat?", spekulierte Jürgen vor sich hin. "Ja, doch, der hat doch diese Pillen mitgebracht, damit Jolante wieder auf Gewicht kommt, vielleicht konnte sie die nicht vertragen, dann hat der sie vergiftet." Jürgen konnte sich nicht mehr zurückhalten: "Also Mord!", stieß er hervor. Jupp verengte die Augen, kräuselte die Stirn, zupfte die Nasenspitze, kaute auf den Fingernägeln. Jürgen beobachtete ihn gespannt. "Wenn ich es mir überlege", sinnierte Jupp, "könnte das gut möglich sein, der hat mir die Pillen auch regelrecht aufgeschwatzt."
"Der hat sie vergiftet!" Jürgen klopfte wie zur Bestätigung mit den Fingerknöcheln auf die Theke, "jetzt musst du die Kripo informieren!" "Ja das werde ich machen, Klaus gib mir das Handy, ich habe einen Mordfall zu melden!" Gespannt verfolgte Jürgen das weitere Geschehen. Der leicht süßliche Gestank kam aus der Richtung von Jupp.
"Vielleicht solltet ihr erst eine Obduktion vornehmen, bevor ihr die Polizei einschaltet." Sagte Klaus und stellte die beiden Biergläser auf den Tresen, "Eins für Sherlock Holmes und eins für Dr. Watson, prost." Beide nahmen einen tiefen Zug. "Genau das werde ich machen, nur gut, dass ich Jolante noch nicht begraben habe." Sagte Jupp und wischte sich den Schaum von den Lippen. "Ist sie noch im Krankenhaus oder schon in der Leichenhalle?", fragte Jürgen. "Wieso Leichenhalle?" Erstaunt schaute Jupp Jürgen an. "Wie haste sie noch zu Haus?" "Nee, ich habe sie hier!" "Wo hast du denn den Sarg stehen?" Ungläubig blickte Jürgen um sich, kratzte sich am Kopf, denn er meinte, irgendwo müsste das Ding stehen. "Nein, hier ist sie!" Jupp griff nach der schwarz-gelben Plastiktüte, die die ganze Zeit auf seinem Schoß lag. Irritiert schaute Jürgen zu Jupp und dann in die geöffnete Plastiktüte. "Das ist meine Jolante!" Und ein widerlicher Mief stieg hoch.
Angeekelt sprang er vom Barhocker, tippte mit dem Finger an die Schläfe: "Du hast ja wohl 'ne Meise!"
"Keine Meise, Brieftaube!"

Stephan Hollmann lebt in Hiddenhausen.

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Hubert Hug

Verurteilt

Ihre Magnetrezeptoren haben Verbindung zu einer fernen Kultur, und soweit man es beurteilen kann, dienen die Signale ausschließlich friedlichen Zwecken.

"Im Namen des Volkes wollten wir euch ausrotten. Es durfte dabei weder gegurrt noch gelacht werden. Das Gemeinwesen finanzierte das Projekt. Ihr seid nun die letzten vier Tauben. Was sagt ihr zu eurer Verteidigung?", fragte die Richterin ernst.
Das Straßentaubenpärchen, die mazedonische Drehtaube und die Brieftaube schauten sich an und gurrten kurz. Dann ergriff die Brieftaube das Wort:
"Hochverehrtes Publikum, die Steinbauten der Mesopotamier vor 8000 Jahren gefielen unseren Vorfahren, den Felsentauben, so gut, dass sie in deren Hohlräumen brüteten. Doch bald gab es so viele zu ernährende Menschen, dass man uns Eier oder Junge wegnahm. In unserer Gutmütigkeit ließen wir dies zu und im Gegenzug begannen die Menschen, uns mehr und besser zu füttern, besonders als sie herausfanden, dass wir auch noch Dünger für die Felder lieferten. Ohne unsere Verbindung hätte sich die Kultur der Menschen gar nicht so weit entwickeln können. So baute man uns endlich spezielle Türme aus Steinen, sehr geräumig und sicher vor Schlangen und Mardern. Oben befand sich ein Loch für den Ein- und Ausflug.
Aber wenn Getreidesamen auf den Feldern ausgesät waren, sperrte man uns so lange ein, bis die Körner gekeimt hatten. Erst dann ließ man uns heraus, um die Samen von Gräsern, Wicken und anderen Unkräutern zu picken." Die Brieftaube blickte dabei der Richterin ins Gesicht, als erwartete sie eine Reaktion.
"Wir waren gleichzeitig Unkrautvernichter und Dünger-Lieferanten. Kann man uns da einen Vorwurf machen?", warf die dunklere der beiden Straßentauben ein, weil ihr die Pause zu lange war.
Wieder kam kein Kommentar.
Die Brieftaube fuhr fort: "Die ersten Taubentürme stürzten ein, wenn wir alle zusammen in ihnen aufflogen und unsere Flügel gleichmäßige Schwingungen auslösten. Mathematiker und Architekten lösten das Problem mit Hilfe unserer Verbindung zu der entfernten Kultur. Sie entwickelten eine Formel, um die Taubentürme so zu bauen, dass sie bei synchronisiertem Flügelschlagen nicht mehr einbrachen. Diese Formel ging verloren, als man sich nicht mehr für uns interessierte. Andere Nahrungsquellen, Kunstdünger und Unkrautvernichtungsmittel waren den Menschen wichtiger geworden.
Das schönste für unsere Vorfahren war aber, dass man sie wegen der Art ihrer Liebe bewunderte. Wir leben unser ganzes Leben lang in Einehe und kümmern uns gemeinsam um den Nachwuchs. So wurden wir in den Religionen zu Göttern der Liebe. Unser Wesen war ein beliebtes Vorbild für das friedliche Zusammenleben und schien von einer anderen Welt gesteuert zu werden."
"Soll ich sagen, in uns wohnt etwas Göttliches? Denn eine Sturzflugtaube stellt den Heiligen Geist dar", ergänzte kurz die weiße mazedonische Drehtaube.
"Botenflüge meiner Vorfahren entschieden Streitigkeiten. Weil die Menschen selbst nicht schnell und unerkannt vorwärts kommen konnten, hing die Übertragung von Nachrichten Jahrtausende lang an uns. Die Kinder der Sieger bekamen goldenen Ringe um die Füße", erklärte die Brieftaube.
"Andere von uns zeigten zauberhafte Flugfiguren wie Purzelbäume, Drehungen, Sturzflüge und andere Kunststücke. Dann gab es Hochflieger, die für mehrere Stunden teilweise bis in unsichtbare Höhen verschwanden", schwärmte die mazedonische Drehtaube.
"Die Römer und Gallier begeisterten sich für besonders große Exemplare", bemerkte die hellere Straßentaube.
"Früher riefen unsere Farben, Muster und Formen Erstaunen hervor. Purpur und grün glänzende Hälse, Schwänze wie Pfauen, Perücken, Hauben oder Kappen und große, blasende Kröpfe. Aber das alles, sowie die faszinierende Musik der Trommeltauben ging verloren", seufzte die dunklere Straßentaube.
"Wir brauchen euch aber nicht mehr. Ihr schmarotzt in unseren Städten und verdreckt unsere Häuser", erklärte die Richterin, als wäre ihr Leben bedroht. "Mit eurer Beseitigung werden wir unsere Kultur säubern."
"Wir verstehen, wenn man unser Fleisch, unsere Eier und vor allem unsere Eigenschaften nutzt. Unser Verschwinden wird euch nicht weiterbringen", bemerkte die Brieftaube enttäuscht.
"In allen guten Zeiten, wenn Kultur und Wohlstand wuchsen, lebten die Menschen friedlich mit Tauben. Nur in schlechten und kulturlosen Zeiten hasste man uns und hat uns vernichtet", sagten alle Vier gemeinsam.

Die vier letzten Tauben hatten über die Ursprünge der gemeinsamen Kultur bereits mehr vergessen, als die Menschen je gewusst haben. Der Kontakt zur fernen Kultur brach ab.

Dr. Hubert Hug lebt in Schliengen-Niedereggenen.

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Stefan Krause

Geisterland

Mein Haus ist alt. Doch die Grundmauern, auf denen seine spitzen Türme und fleckigen Wände ruhen, reichen noch viel weiter zurück, bis in die düsteren Jahrhunderte, in denen an dieser Stelle eine Burg aufragte, die irgendwann in den Feuern des Krieges versank, den man nach seinem Ende den '30-jährigen' nennen sollte. Aus den Ruinen wand sich dieses Gebäude, das sich nun selbst wieder windschief unter der Last seiner Vergangenheit beugt.
Man kann sie sehen, wenn man gründlich sucht und empfindliche Sinne mitbringt. Die Stellen, an denen das grobe Gemäuer aus der Erde wächst wie ein Naturphänomen und in die moderneren Steine übergeht, die heute selbst wieder so wirken, als hätten urzeitliche Geschöpfe sie aufeinandergeschichtet.
Ich sitze in der Stille an meinem Schreibtisch, in dem großen düsteren Raum, den ich mir angewöhnt habe, als mein Arbeitszimmer zu betrachten, obwohl er einst auch mein Kinderzimmer war und die Schränke noch immer manches Spielzeug bergen. Es ist wie das Museum meines Lebens, eingebettet in das Museum meiner Familie. Ich weiß, dass ich einmal hier in diesem Zimmer sterben werde, doch diese Gewissheit macht mir keine Angst. Warum sollte sie? Ich lebe in der Sicherheit meines Schicksals. So wie es immer war. Einst gab es hier Personal, doch mein Geld reichte nicht mehr für es. Nun ist niemand mehr da. Außer mir. Obwohl – bin ich nicht selbst kaum mehr als ein Geist?
Ich mache mich auf, durch die düsteren Gänge, die nach Sonnenuntergang in Dunkelheit versinken, weil keiner mehr die Kerzen und Leuchter entzündet. Es ist Zeit für meinen Spaziergang, für den Weg durch den Park mit seinen verwilderten Hecken und müden Bäumen, hinüber zu der brüchigen Mauer, die den Park von den Gräbern trennt. Ich mustere, was ich nur zu gut kenne: die verwilderten Steine, das Mausoleum mit der erloschenen ewigen Flamme, den eingesunkenen Säulen und der gebeugten Engelsgestalt, deren Züge meiner Mutter ähneln, an die mir sonst keine Erinnerung geblieben ist. Plötzlich höre ich etwas. Ein Rascheln im Gebüsch. Ein Gespenst? Es gibt viele hier, doch keines ist mir je in einem Busch begegnet.
Seltsam berührt biege ich einen Ast beiseite und ein Augenpaar begegnet dem meinen. Ein graues Federgesicht mit einem hellen Schnabel. Eine Taube. Wie lange habe ich kein anderes Lebewesen mehr gesehen? Ich weiß nicht, ob es gefährlich ist, doch ich greife nach dem ängstlichen Tier, hebe es auf. Es wehrt sich nicht. Ich fühle die Federn an meiner Haut, nichts scheint gebrochen zu sein. Ist sie nur müde? Entkräftet? Mein seltener Gast.
"Komm mit mir", sage ich und mir fällt auf, wie fremd meine Stimme in meinen Ohren klingt. Es ist lange her, dass ich mit jemandem gesprochen habe. Wenn sie nur reden könnte! Wo mag sie herkommen, was führt sie zu mir?
Wenig später sitzt sie vor mir auf dem Tisch und ich suche in meinen Büchern nach einer Information darüber, was ich meinem Besucher anbieten soll. Zum Glück findet sich etwas, und während ich ihr Picken beobachte, fällt mir auf, dass etwas an ihrem Bein festgebunden ist, eine winzige Papierrolle. Eine Brieftaube ist sie also. Soll ich die Nachricht lesen? Mich einmischen? Es könnten militärische Geheimnisse sein, Nachrichten der Franzosen oder Preußen. Was hätten meine Vorfahren getan, die von ihren Gemälden düster auf mich herabsehen?
Ein ungewohntes Lächeln legt sich auf meine Lippen, als ich den Zettel an mich nehme, ihn vorsichtig entrolle und studiere. Es sind keine Anweisungen Napoleons, die ich da in der Hand halte. Auch keine Nachricht aus dem Jenseits. Es ist die Handschrift einer Frau, fein und winzig. Bin ich auf einen Liebesbrief gestoßen? Ich fühle, wie meine Wangen sich erhitzen, als schamhaft Blut in mein Gesicht schießt. Doch nein, auch das ist es nicht – eine Tochter teilt ihrem Vater mit, dass sie sicher angekommen sei und er nicht besorgt sein müsse. In unseren unsicheren Zeiten war ihr die Post wohl zu unzuverlässig. Was soll ich nun damit tun? Gegen meinen Willen und meine Gewohnheit bin ich in etwas hineingezogen worden. Das passt so gar nicht zu mir. Und doch gefällt mir etwas daran auf seltsame Weise. Flieg mein kleiner Freund – beende deine Mission! Und nimm eine kleine Notiz von mir mit.
Werde ich dich wohl einmal wiedersehen?

Stefan Krause lebt in Bad Kösen.

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Martin Kreuels

Tauben

häuser grau
bergbau
industrie
stahl, feuer

häuser
eng
nebeneinander
kleine gärten

der himmel
bedeckt
von wolken
vom rauch

menschen
grau
lächeln
grobe hände

akzent unterschiedlich
neue heimat
wenig geld
harte arbeit

im garten
der schuppen
im keller
die werkbank

die wäsche
draußen
gelb
vom rauch

auf dem dachboden
ein stall
ein verschlag
gurren

tauben
federn
kot
körner

das dachfenster
geöffnet
sie fliegen
im kreis

kehren zurück
immer wieder
mal schneller
mal langsamer

er kennt
jede
mit namen
immer

Dr. Martin Kreuels lebt in Münster.

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Emely Möller

Briefe

Ich wartete. Ich wartete schon so lange. Normalerweise brauchte sie nicht so lange! Normalerweise war sie immer pünktlich da.
Die Regentropfen schlugen schwer an mein Fenster. Mit diesem lauten Plong. Die Bäume bogen sich durch die Orkanböen, die heute aufgekommen waren.
Sie wurde sonst nicht durch schlechtes Wetter von ihrem Weg abgebracht.
Seufzend ließ ich mich auf mein Bett fallen. Das Fenster stets im Blick aus Angst, ich könnte ihre Ankunft verpassen.
Die alten Kisten stapelten sich auf meinem Schrank. Zerfetzte Kuscheltiere in der Ecke und Fetzen der Tapete hingen von den Wänden.
Wo war sie bloß?
Die Zeit kroch dahin! Eine unsichtbare Hand hielt die armen Zeiger der Uhr fest.
An jenem Tag wollte die Zeit auch einfach nicht vergehen! Ich hatte die Augen geschlossen und gewartet. Keine Minute war vergangen.
Wie jetzt. Wie relativ die Zeit doch war...
Ich sprang vom Bett, setzte mich an meinen Schreibtisch und schrieb. Wort für Wort, Satz für Satz.
Dafür brauchte ich sie allerdings.
Schweren Herzens wünschte ich sie herbei.
Da pickte es an meinem Fenster.
Sie sah mich erwartungsvoll an und legte den kleinen, braunen Kopf schief. Eilig öffnete ich das Fenster und ließ sie fröhlich hereinhüpfen. Ihr linker Flügel war schief, vermutlich war sie deswegen spät.
Mit einem Lächeln auf den Lippen strich ich ihr über das feuchte Gefieder. Mein Onkel hatte unsere Brieftaube aufgezogen, bevor er in den Alkohol versank. Er hatte sie Sailor genannt.
Sailor, wie eine einsame Reisende, die schwerelos durch den Himmel zum Horizont segelte. Wochenlange Reisen schlug sie oft an, um unsere Wünsche zu erfüllen. Nun war ich die einzige, die noch eine der Tauben meines Onkels besaß, und sie war die einzige übriggebliebene Brieftaube. Sie war mein Ein und Alles!

Hand in Hand spazierten wir durch die antike Stadt. Wir schlenderten durch die engen, hohen Gassen und genossen die warmen Sonnenstrahlen. Hunderte Menschen sahen sich die Altstadt ebenfalls an. Ihr Blick richtete sich jedoch durch die Kamera, die sie zwanghaft vor der Nase hielten. Sie wollten das perfekte Foto von sich und einer Sehenswürdigkeit. Vor der Sonne komplett verschleiert und mit Kopfhörern von der Welt isoliert, rauschte das Leben an ihnen vorbei. Sie bekamen keine Sekunde der unbeschreiblichen Schönheit mit. Nichts von den talentierten Straßenmusikern und dem herzerwärmenden Licht. Ihre Erinnerung war ein Foto, nicht der vollkommene Moment.
Als eine Touristengruppe weiterzog auf ihrer festgelegten Route, standen wir vor einem Schwarm Tauben. Vertraut an diesem Ort, aufgeregt wegen der vielen Menschen, lasen sie jeden Krümel vom Boden auf. Und gerade als wir uns küssten, als sich unsere Lippen leidenschaftlich, romantisch und warm berührten, schwirrten die Vögel los, schwebten gen Himmel. Frei, glücklich, unbeschwert.

Er ist weg. Er ist wirklich, wirklich weg. Es tat so unfassbar tief in meiner Brust weh. Es zerriss mir jede Sekunde des Tages das Herz. Wenn ich ihm doch nur alles sagen könnte, was ich mich nie getraut hatte, auszusprechen! Wäre ich doch nicht so feige gewesen!
Es klingelte an der Tür. Mit schlurfenden Schritten öffnete ich. Die glasigen Augen meines Onkels starrten in meine. In seiner Hand hielt er einen bedeckten Käfig. Er stellte ihn in den Flur und torkelte davon. Einen Moment stand ich verdutzt da, ratlos. Doch dann riss mich ein Gurren aus meinen Gedanken. Ein Gurren, dann ein Geräusch von kleinen Krallen auf Plastik.
Vorsichtig hob ich das weiße Tuch an und sah die braune Taube.
Tauben waren Ratten der Lüfte!

Mein Vater erzählte mir lange die Geschichte, dass sein Bruder Brieftauben züchtete, und nach einem Versuch waren wir uns sicher, dass Sailor eine Brieftaube war. Ich durfte sie behalten und informierte mich über meine neue Freundin.
Sailor spendete mir Trost und befreite mich von dieser Stille, in der ich nichts außer meiner trüben Gedanken hörte.

Schließlich allerdings entdeckte ich auch die wahre Bedeutung meiner Taube.
Ich schickte ihm Briefe. Seitenlange Texte schickte ich mit Sailor ins Nichts. Sie kannte keinen Ort, zu dem sie fliegen sollte, und ich wusste nicht, wohin sie meine Briefe brachte. Aber sie brauchte immer genau drei Tage, bis sie wieder da war. Wahrscheinlich verrottete das Papier irgendwo, und sie suchte sich irgendwo etwas zu fressen.
In meinem Kopf allerdings brachte sie die Briefe zu ihm. Er war tot, weg, unwiderruflich. Sailor war die Verbindung ins Jenseits. Meine Verbindung! Und solange Sailor immer zurück zu mir kam, war er nicht verloren, existierte stets die Liebe zwischen uns.
"Gut gemacht, Sailor", wisperte ich, streichelte ihre Federn und lächelte.

Emely Möller lebt in Braunschweig.

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Flavio Redlich

Amors Flug

Mein Herz ist schwer, es ist nun Zeit,
aus ganzer Seele ihr zu schreiben.
Doch schickt man einer holden Maid,
E-Mails, Tweets oder Facebook-Zeilen?

Die digitale Medienflut,
raubt der Romantik ihre Glut.
Drum send' ich meinen Liebessschwur,
mit einer Taube, lach' du nur.

Denn meine Maid liebt Märchen sehr,
in denen Tauben Helden waren.
Sie trennten Linsen, schnell und fair,
um Aschenputtels Not zu tragen.

So ist die Taube unser Pfad,
um Herzen kunstvoll zu verbinden.
Denn Amor reist auf seine Art,
in luft'ger Höh', auf Engels Schwingen.

Mein Brief liegt nun in Amors Hand,
die Taube trägt ihn, Gott sei Dank.
Ich seh' ihr nach, schau wie sie fliegt,
und weiß, dass stets die Liebe siegt.

Flavio Redlich lebt in Gräfelfing.

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Ursula Vatterott

Klage eines Ausgemusterten

Jetzt sitz' ich hier und bin frustriert.
Vorzeitig zwangs-frühpensioniert.
Man denkt, man hat 'ne sich're Stelle,
Abteilung weg – ganz auf die Schnelle.

Die Ahnen wurden noch geachtet.
Im Kampf verletzt, gar abgeschlachtet.
Denkmäler gibt's, die das belegen,
Auch wenn die heut nicht mehr bewegen.

Wir waren treu, wir waren gut,
Bewiesen oft den größten Mut,
Bekamen manchmal sogar Orden.
Die liegen heut auf hohen Borden.

Warum nicht, statt nur E-Mails senden,
Einmal wieder mich verwenden?
Mich – Brieftaube Amadé,
Einst Soldat, jetzt nur "a. D."

Es muss doch geh'n, auch ohne Kriege,
dass ich meine Strecken fliege.
Oder sieht "Weiterverwendung" vor,
dass ich ende jetzt im Rohr?

Ursula Vatterott lebt in Puchheim.

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Jana Viefhues

Unverständnis

Manchmal reicht ein kleines Ereignis aus, um einen Menschen abrupt aus seinem gewohnten Alltagstrott herauszureißen.
Ich vermag nicht mehr zu sagen, welcher Monat, geschweige denn welcher Tag es war, aber es war auf jeden Fall im Sommer, da die Sonne warm auf mich hinabschien, als ich geistesfern die banale Tätigkeit des Müllherausbringens erledigte.
Ich schlug den Deckel der großen Mülltonne zu und wollte mich schon zurück zur Haustür wenden, als etwas meine Aufmerksamkeit auf den angrenzenden, frei zugänglichen Nachbarrasen lenkte. Dort lag ein Vogel.
Irritiert ging ich langsam auf den Rasen zu und erkannte eine Taube, die dort tot im Gras lag.
Ihr heller Körper hob sich fast leuchtend vom Grün des Rasens ab.
Ich hockte mich hin und betrachtete die Taube näher. Ihre Flügel waren weit ausgestreckt, die Beine angezogen, so, als hätte sie noch Sekunden zuvor auf einem Ast gesessen. Unwillkürlich hob ich den Blick, hoch zu den mächtigen Eichen, die vor unserem Garten standen und deren üppige Äste weit über das Dach unseres Hauses ragten und auf denen sich zuweilen dutzende Tauben tummelten.
Doch jene verstorbene Taube, die zu meinen Füßen lag, hatte nichts mit den Ringeltauben in den Eichen zu tun, die mich mit ihrem Gurren immer wieder fröhlich stimmten.
Der Kopf der Taube war nach links geneigt, die Augen geschlossen, und ihr Schnabel war leicht geöffnet, was sie ein wenig überrascht aussehen ließ.
Ich erhob mich aus meiner hockenden Position und blickte auf das arme Tier hinab. So wie es dort lag, mit den ausgestreckten Schwingen und den geschlossenen Augen, erinnerte mich die Taube an einen Engel. Ein kleiner Engel, der aus dem Himmel gefallen war.
Es kam nicht in Betracht, dass eine Katze sie gerissen hatte. Man konnte keine Wunden erkennen, und auch ihr herrliches Federkleid schien unversehrt zu sein.

Ein sachter Windstoß, der durch das Gefieder fuhr, verriet mir dann die Todesursache.
Mitten in der Brust des Vogels war ein Loch zu sehen. Kein Blut, nur das kleine kreisrunde Loch. Ich konnte es nur wenige Sekunden betrachten, bevor der Wind abebbte und das Gefieder die hässliche Wunde wieder verdeckte.
Mir wurde schlagartig übel. Nicht, weil mich der Anblick der Schusswunde angeekelt hätte, sondern weil mir klar wurde, dass irgendjemand diesen wunderschönen Vogel mutwillig ermordet hatte.
In meiner nun ansteigenden Wut wollte ich mich von dem verstorbenen Tier abwenden, als mir auffiel, dass die Taube einen kleinen Ring um das linke Bein trug.
Nun hatte ich auch die Erklärung, warum diese Taube den Tauben hoch über mir in den Eichen so unähnlich war. Es war eine Brieftaube, die sich entweder verirrt hatte, oder in den Ästen der alten Bäume eine Rast von ihrem Flug hatte einlegen wollen, die sie mit ihrem Leben bezahlen musste.
Einige Tage später teilte ich dem Besitzer der Brieftaube den Verlust seines Schützlings mit. Auf die Tatsache, dass seine Taube erschossen worden ist, reagierte er genau wie ich, mit Unverständnis.

Jana Viefhues lebt in Schöppingen.

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Christa Wolf

Dübeker

Traurig ging der alte Mann die fremde Straße entlang. Zum dritten Mal in seinem Leben hatte er alle Brücken hinter sich abbrechen müssen. Seine Frau und er waren allein nicht mehr klar gekommen. Ohne Unterstützung war das tägliche Leben zu schwierig geworden. Zum Schluss war es nur noch ein täglicher Kampf.
Nun hatten sie eine altengerechte Wohnung, Kaufmann, Apotheke, Arzt und Sparkasse um die Ecke und konnten mit Hilfe ihrer Tochter den Alltag wieder bewältigen. Seine Frau war zufrieden. Doch er, er war einsam geworden. Seine Freunde, die vertrauten Wegbegleiter, waren fern und unerreichbar.
Die Schritte des alten Mannes waren schwerfällig. Das Laufen bereitete ihm Probleme. Automatisch ging sein Blick zum Himmel. Abrupt blieb er stehen. Narrte ihn seine Fantasie, spielten ihm seine Augen einen Streich? Hoch in der Luft flog eine Taube zielstrebig in Richtung seiner Wohnung. Der alte Mann verfolgte sie mit den Augen und sah, wie sie hinter dem Haus aus rotem Backstein verschwand, das genau an den Garten der Altenwohnung grenzte.
Ohne zu zögern folgte er der Taube. Vor dem Backsteinhaus lauschte er. Unter allen Geräuschen der Welt hätte er dieses eine herausgehört. Das aufgeregte Gurren und Glucksen, das es nur in einem Taubenschlag gibt. Musik in seinen Ohren. Ganz entrückt stand er da.
Plötzlich klapperte es neben ihm. Ein junger Mann lehnte sein Fahrrad an die Mauer. Er guckte in den Himmel, sah eine Taube ankommen und sagte: "Schön, nicht?" "Ja", antwortete der alte Mann, "das macht ihnen keiner nach. Sie finden immer nach Hause." "Am Wochenende waren sie in Spanien", erzählte der junge Mann. "Das Weiteste für meine war Südfrankreich", erwiderte der Alte. "Taubenzüchter?", fragte der junge Mann. "Gewesen", sagte der Alte, "bin zu alt geworden, konnte die Leiter zum Schlag nicht mehr hoch." "Traurig. Willst du meinen mal sehen? Ich habe eine Treppe." "Klar", entgegnete der alte Mann.
Einträchtig stiegen sie die Treppe hoch, intensiv in Fachgespräche vertieft. Im Schlag begutachteten sie kritisch die Vögel, kontrollierten das Gefieder und fachsimpelten über Körperbau, Farben, Rassen und die Gefahren für Reisetauben.
Der junge Mann hatte plötzlich zwei Flaschen Bier in der Hand. "Ich bin Heini", stellte er sich vor. "Ich bin Fritze" antwortete der alte Mann und erzählte von der Altenwohnung, die hinter dem Gartenzaun lag. Nach einer Weile des Schweigens bot der junge Mann, der in Fritz sofort den erfahrenen, umsichtigen Taubenzüchter erkannt hatte, an: "Du kannst wiederkommen, auch wenn ich nicht da bin." Der alte Mann strahlte. Doch er wusste, allzu oft würde er nicht mehr kommen können, seine Krankheit würde fortschreiten. Luftlinie war es nicht weit, aber im Gegensatz zu den Tauben musste er ja die Straße nehmen.
In den nächsten Wochen gelang es Fritz hin und wieder, die Tauben und Heini zu besuchen. Doch es wurde immer schwerer. Irgendwann wurde es zu schwer. Traurig saß der alte Mann Tag für Tag am Fenster und guckte den Tauben zu. Sah, wie sie losflogen und wie sie zum Schlag zurückkehrten. Er wäre so gerne zu ihnen gegangen, doch der Gartenzaun trennte sie. Manches Mal hatte er schon davorgestanden und sich gewünscht, er könne hinübersteigen. Er hatte auch schon mal ganz heimlich den Fuß gehoben, aber wie eine unüberwindbare Mauer stand der Zaun zwischen ihm und den Tauben.
Eines Tages klingelte es. Heini stand vor der Tür. "Fritz, warum kommst du nicht mehr?", fragte der junge Mann besorgt. Der Alte lächelte ein bisschen schief. "Die Pumpe will nicht mehr. Der Weg ist zu weit", erklärte er. Die Traurigkeit in diesen Worten berührte den jungen Mann tief. Er sah den Sessel am Fenster, schaute hinaus, sah die Tauben und lächelte verschmitzt. "Wirst du nicht bald 80?", fragte er. "Ja", antwortet der alte Mann, "aber was hat das denn damit zu tun?" "Wart's ab", sagte Heini, verabschiedete sich und ging. Etwas verwirrt blieb der alte Mann zurück.
Dann kam der Tag des Geburtstags. Es schellte. Der junge Mann stand vor der Tür und überreichte dem alten Mann feierlich einen Schlüssel. Verwirrt schaute der den Schlüssel und dann Heini an. Der sagte nur: "Komm", nahm den alten Mann beim Arm und ging mit ihm in den Garten. Am Zaun standen sie, die Taubenverrückten des Dorfs. "Dübeker", wie der alte Mann sie nannte. "Lieber Fritz", begann Heini, "hier ist das Schloss zu dem dein Schlüssel gehört."

Die Männer traten zur Seite und Fritz traute seinen Augen nicht. Eine Tür! Die Taubenfreunde hatten ihm tatsächlich eine Tür in den Zaun gebaut. Er könnte durch den Garten direkt zum Taubenschlag gehen. Fritz traten Tränen in die Augen. "Probier den Schlüssel aus!", riefen die Männer ihm zu. Der alte Mann tat es. Ganz leicht und ohne zu quietschen schwang die Tür auf. "Wir haben aber noch etwas für dich!", sagte einer der anderen Dübeker. Wieder traten die Männer zur Seite, und jetzt konnte der alte Mann nicht mehr anders, Tränen liefen ihm übers Gesicht. Eine Bank stand da. Sie hatte ein Schild: "Für Fritz, einem von uns!", stand dort. Der alte Mann konnte nur noch stammeln. "Das habt ihr für mich gemacht, für mich, einen Fremden?" "Du bist kein Fremder", antworteten ihm die Männer. "Du bist ein 'Dübeker', und 'Dübeker' sind Freunde immer und überall."

Christa Wolf lebt in Elsdorf.
Sie schildert hier die wahre Geschichte ihres Großvaters.

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Rechtlicher Hinweis

Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass die Rechte an allen veröffentlichten Texten bei den jeweiligen Autorinnen und Autoren verbleiben. Ein Nachdruck, auch auszugsweise, ist nicht gestattet – außer, die Verfasser geben Ihnen dazu ausdrücklich ihre Genehmigung. Zur Kontaktaufnahme wenden Sie sich bitte an uns:
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Und nun viel Spaß mit den Brieftaubengeschichten!

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* Margret Fiedler * Heinz-Helmut Hadwiger Michael Schelhorn
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